Annchen Gesine Rüschen wird am 23. November 1876 als erstes Kind von Diedrich Barkemeyer und Meta Barkemeyer auf dem elterlichen Hof am Altenauweg in Hurrel (heutige Eigentümerin: Irmgard Wachtendorf) geboren. Sie ist die ältere Schwester von Meta Johanne Punke und Georg Barkemeyer.
In den Tagen und Wochen um Annchens Geburt schlägt in den USA der lange Zeit offene Ausgang der Präsidentschaftswahlen vom 7. November hohe Wellen. Angetreten waren neben drei chancenlosen anderen Kandidaten der Republikaner Rutherford B. Hayes und der Demokrat Samuel J. Tilden, wobei letzterer mit einem Vorsprung von mehr als 250.000 Stimmen anfangs wie der klare Sieger aussieht: Er entscheidet die besonders hart umkämpften Staaten Connecticut, Indiana und New Jersey für sich und verfügt vor den noch ausstehenden Abstimmungs-Ergebnissen aus Florida, Louisiana, South Carolina und Oregon bereits über 184 Wahlmänner-Stimmen – nur eine weniger als erforderlich. Dass zumindest einer der drei Südstaaten an ihn fallen wird, gilt als so gut wie sicher.
Doch es kommt anders. In allen vier Staaten erklären die zuständigen Wahlkommissionen Haynes zum Sieger. Daraufhin beschuldigen die unterlegenen Demokraten republikanische Kommissions-Mitglieder, auf sie entfallene Stimmen unterschlagen zu haben. Umgekehrt werden von Seiten der Republikaner Vorwürfe laut, paramilitärische Einheiten der Demokraten hätten ihre Unterstützer eingeschüchtert und so von den Urnen ferngehalten.
Am Ende sind die Fronten dermaßen verhärtet, dass eine ernste Staatskrise droht. Laut Verfassung nämlich muss bis zum vorgesehenen Datum der Amtseinführung ein Präsident bestimmt sein. Ein am 29. Januar 1877 eilig erlassenes Gesetz sieht deshalb vor, die Wahl von einer 15-köpfigen, aus je fünf Mitgliedern von Senat, Repräsentantenhaus und Oberstem Gericht gebildeten Kommission treffen zu lassen. Zünglein an der Waage bei sieben Demokraten und sieben Republikanern im Gremium ist der als unabhängig geltende Richter Joseph P. Bradley, der allerdings 1870 vom republikanischen Präsidenten Ulysses S. Grant ernannt wurde. Insofern ist die am 2. März 1877 verkündete Entscheidung der Kommission keine allzu große Überraschung: Der 19. Präsident der Vereinigten Staaten heißt Rutherford B. Hayes. Immerhin können die Demokraten im Vorfeld der Bekanntgabe einige politische Zugeständnisse heraushandeln und stellen mit David McKendree Key auch einen Minister im neuen Kabinett.
Ob Annchens Eltern in Hurrel vom Wahl-Krimi in den gerade den 100. Jahrestag ihrer Gründung feiernden USA Notiz nehmen? Auszuschließen ist es nicht, denn mit Johann und Bernhard Tönjes wandern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleich zwei Brüder ihrer Mutter Meta nach dorthin aus. Wobei ersterer schon 1873 in einem Chicagoer Hospital an Pocken verstorben ist und sich bei letzterem der Zeitpunkt der Auswanderung nicht mehr genau bestimmen lässt. Sollte Bernhard Tönjes jedoch 1876 ebenfalls bereits in Chicago leben, könnte er in einem seiner Briefe Bericht erstattet haben. Wie auch immer: Das Thema USA bleibt in der Familie ein Gesprächsthema, denn in der Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse tritt nur zwei Jahre später mit Heinrich Bernhard Tönjes der nächste Verwandte die Reise über den Atlantik an. Im Frühjahr 1893 folgt dann mit Annchens Tante Sophie Tönjes die jüngste Schwester ihrer Mutter.
Annchens Eltern ziehen einen solchen Schritt vermutlich zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens in Erwägung – besitzen sie doch mit dem von Annchens Großvater Gerd Barkemeyer übernommenen, rund 20 Hektar großen Hof am heutigen Altenauweg die wichtigste Voraussetzung für ein Auskommen in der Heimat. Dass damit harte Arbeit verbunden ist, versteht sich zur damaligen Zeit allerdings von selbst, und als ältestes Kind dürfte Annchen von frühester Jugend an in die Bewirtschaftung eingebunden sein.
Kurz vor der Geburt von Bruder Georg im Juni 1883 wird Annchen in die Volksschule im Nachbardorf Lintel eingeschult. Dort gehören unter anderem Gesine Wilkens, Johanne Heinemann und Annchen von Seggern zu ihren in etwa gleichaltrigen Mitschülerinnen. Im ersten Jahr ist auch noch Meta Katharine Stolle dabei, doch der allzu frühe Tod der ebenfalls 1876 geborenen Klassenkameradin lenkt den Blick auf das neben der Nordamerika-Auswanderung zweite große Hurreler Thema jener Epoche – die Tuberkulose. Zahlreiche Familien im Dorf sind von der bis dato kaum erforschten Volksseuche betroffen. Auf dem Barkemeyer-Hof bricht die Krankheit aber in jenen Jahren allem Anschein nach nicht aus oder fordert dabei zumindest keine Todesopfer.
Ob Annchen nach Schulabschluss und Konfirmation weiter im elterlichen Betrieb mitarbeitet oder zunächst irgendwo in Stellung geht, lässt sich nicht mehr mit Gewissheit sagen. Wahrscheinlicher ist jedoch ersteres, denn spätestens ab Mitte der 1890er Jahre fällt Mutter Meta aufgrund ihrer Geh- und Rückenbeschwerden als Arbeitskraft aus und wird bald darauf sogar zum Pflegefall. Eine Aufgabe, die Annchen und Schwester Meta Johanne zunächst gemeinsam übernehmen – bis Meta Johanne im Mai 1902 zu ihrem Ehemann Heinrich Punke nach Wraggenort zieht. Annchen selbst heiratet zehn Monate später Johann Rüschen aus Altmoorhausen. Die Pflege der Mutter übernimmt fortan bis zu deren Tod im März 1906 die Haushälterin und spätere Stiefmutter Sophie Albers.
Johann Rüschen bewirtschaftet in Altmoorhausen mit seinen Eltern Hinrich Wilhelm und Meta Rüschen einen an der Hauptstraße Richtung Wüsting gelegenen Hof, der nur geringfügig kleiner ist als der Barkemeyer-Hof in Hurrel (heutige Eigentümer: Henning und Dörte Rüschen). Begründet hat ihn Johanns Urgroßvater Johann Harm Heyne, der – für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich – das dafür nötige Gebäude 1806 gebraucht von einem Bauern in Neuenkoop gekauft hat.
In Altmoorhausen bringt Annchen bis Juli 1912 vier Kinder zur Welt: Martha (Mai 1903), Johanne (Juli 1904), Hinrich Georg (August 1907) und Frieda. Als sie im Herbst 1914 ihre fünfte Schwangerschaft bemerkt, ist die Welt um sie herum eine komplett andere geworden. Seit Anfang August 1914 tobt der Erste Weltkrieg, an dem Ehemann Johann sehr wahrscheinlich von Beginn an teilnimmt. Wie oft er seine im Mai 1915 geborene Tochter Anni auf den im weiteren Verlauf des Krieges vermutlich immer seltener werdenden Heimaturlauben zu Gesicht bekommt, lässt sich nur erahnen. Den Friedensschluss erleben beide nicht: Anni stirbt im September 1917, ohne dass das Kirchenbuch der Gemeinde Hude eine Todesursache nennt. Johann wiederum fällt im Oktober 1918 in Frankreich, nur wenige Wochen vor dem nahe Compiègne unterzeichneten Waffenstillstand. Für Annchen zweifellos eine schlimme Zeit.
Die folgenden, politisch wie wirtschaftlich turbulenten Anfangsjahre der Weimarer Republik sind für Annchen als Kriegswitwe mit vier minderjährigen Kindern kaum einfacher. Ihre Schwiegereltern packen zwar wie in den Jahren zuvor weiter nach Kräften mit an, sind aber Ende 1918 bereits 68 und 64 Jahre alt. Schwiegermutter Meta stirbt überdies schon 1922. Spätestens von diesem Zeitpunkt an wird Annchens Sohn Hinrich Georg zu einer wichtigen Stütze, er übernimmt den Hof anlässlich seines 20. Geburtstages im August 1927.
Auch nach der Übergabe bleibt Annchen voll in die tägliche Hofarbeit eingespannt. In den folgenden Jahren erlebt sie schöne Momente wie die Hochzeit der beiden älteren Töchter – Martha heiratet 1928 Georg Köhrmann aus Wiemerslande, Johanne 1929 Hermann Punke aus Wüsting – und die Geburt zweier Enkelkinder, aber ebenso den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und den damit verbundenen Aufstieg der Nationalsozialisten. Noch bevor diese im Freistaat Oldenburg und dann in ganz Deutschland die Macht übernehmen, endet Annchens Lebensweg: Sie stirbt am 17. Januar 1931 an einer Lungenentzündung und wird vier Tage später auf dem Friedhof der St.-Elisabeth-Kirche in Hude beerdigt.