Johann Folkers – Texte

Die folgenden Gedanken über die wesentlichen Grundlagen des christlichen Glaubens hat Johann Folkers 1908 nach einer Reise in den Böhmerwald niedergeschrieben.

„O gewiss, die herrliche Wanderung hatte mich erleichtert, erfrischt, verjüngt. Sie war Lebensfreude. Mit Kraft und Mut griff ich die Schularbeit wieder an. Ich sah die erste leuchtende Birke, und die brachte mir Augenblicke, worin ich etwas von der hohen, hehren Freud fühlte, die unser Beruf, wie jede Arbeit, in sich birgt.

Aber mit dem Bewusstsein meiner Wirkung auf die Kleinen stieg auch das Gefühl der Verantwortung. Ich selbst hätte mich zwar ruhig mit Resignation und kalter Verneinung über die Fragen nach unserer Seele, nach Gott, nach Jesus, nach unseren Pflichten und Rechten, nach dem Sinn unseres Lebens hinwegsetzen dürfen. Das ist das Recht des Einzelnen, der nur sich selbst lebt. Doch ich wusste und fühlte gar bald, dass der, der in das Seelenleben seiner Mitmenschen, besonders der sehr empfänglichen Kinderherzen, eingreifen soll, durchaus erst sich selbst in der Welt zurechtgefunden haben muss, ehe er andere darin herumführt. So warf ich denn allen Ballast, der bei den meisten noch heute, dank der unglücklichen Erziehung geknechteter Schulen, in sinnlosen Phrasen und toten Dogmen, statt in eigenem Fühlen, Wollen, Denken und Forschen besteht, über Bord und steuerte mein Lebensschiff in das offene Fahrwasser der allmächtigen Schöpfung hinaus:

Rückwärts das sonnige Ufer kindlichen Glaubens,
Um mich des Zweifels dunkler Morast,
Vor mir im Nebel des Forschens unsicheres Gestade,
dahin treibt’s mich mit fiebernder Hast.

Bald lernte ich allerdings einsehen, dass wir auf alle Fragen – wie solche nach Gott – eine sichere Antwort im Leben weder erhalten können, noch dürfen, noch brauchen. Erträumen mögen wir, was der Schleier verdeckt, aber lüften werden und dürfen wir ihn nie.

Aber eine andere Frage wurde in mir umso brennender: „Wer ist Jesus?“ Natürlich hatte ich als Opfer unserer „hohen Kultur“ von der edlen Gestalt des Mannes nicht anders gehört als von dem Gotte, der uns durch sein Blut „Vergebung der Sünde“ erwirkte. Schon in den letzten Jahren meiner Oldenburger Seminarzeit hatte ich einige Male unter Tränen meinen Lehrer um Erlösung aus dem niederdrückenden Zweifel gebeten; doch er wagte ihn nicht offen genug aus meiner Brust zu reißen. Ich schleppte ihn weiterhin mit herum: Hatten meine Gedanken sich ein Bild der ganzen erhabenen Schöpfung entworfen, so zerstörte das eine Zwittergeschöpf – das man doch künstlich mir nahegebracht hatte! – immer wieder die wohltuende Einheit. Verfolgte ich die Geschichte der Menschheit, so schien sie stets an einer Stelle von Willkür zerrissen. Klomm‘ ich mit anderen Menschen zu einem Höheren empor, so kehrte sich immer der eine Wanderer um, zeigte auf sich und versperrte die Aussicht auf das Ziel.

Jetzt endlich fühlte ich, dass ich – als Mensch – in meinem eigenen Innern das Urteil trüge, und ich wühlte darin, es zu finden. Jesus ein Gott? O, dann ist doch seine Leidensgeschichte bloße Heuchelei. Wo aber bleibt sein eigenstes, edles, menschliches Herz? Jesus das Opferlamm? O niedriger Schöpfer, der Du nur sündige Menschen schufst und für diese Deine Schuld auch noch die Leiden eines Guten bedarfst! Jesus der Sündenvertilger? O ihr Toren, da wollt ihr noch mühsam „zum Guten“ streben, ringen in stetem Kampfe? Ja, Toren seid ihr, stürzt euch doch auf „die Freuden dieser Welt“, denn „wenn eure Sünde euch auch blutrot würde, so soll sie doch schneeweiß werden“!

Heute belächelt mein Verstand die Niedrigkeit eines solchen Christusbildes, einer solchen hohlen Weltanschauung. Heute bemitleidet mein Gefühl die Millionen, die in solchem naiven Glauben ihre Zufriedenheit und ihren Frieden fanden und finden. Damals aber lag ich halbe Nächte in der Heide oder brütete freudlos über Büchern. Alle ließ ich sie reden: Heuchler und Toren, Edle und Freie.

Und siehe, da quoll es hervor aus Einfalt und Aberglauben, aus Kleinheit und Feigheit, aus Selbstsucht und Pfaffenmoral, gleich dem goldigen Sonnenstrahl, der am taufrischen Morgen endlich hinter dunklen Gebirgen hervorblitzt: Da segnete Goethe: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Da rief Schiller: „Der Mensch ist frei erschaffen, ist frei!“ Da trat Hebbel das kriechende Gewürm unter die Füße: „Nun ein heiliger Krieg!“ und „Trotze, so bleibt Dir der Sieg!“ Und da wandelte auch er hervor, Jesus, der Heros der Liebe.

Dank sei Dir, Gottheit, für die gold’ne Erkenntnis: Jesus kein Gott! Kein Jude! Kein Christ! Sondern ein Mensch, ja ein Mensch! Einer der Edlen im Kreise der Guten.

Und umso reiner wurde mir das neue Jesusbild, je mehr auch der Grund eines anderen christlichen Bauwerks wankte, bis es zusammenbrach, das düstere Gebäude der „Sünde“. Dafür erkannte ich, besonders im Lehrsaale der Nacht unter dem hehren Sternenhimmel, das ewige, eherne Gesetz von Schuld und Sühne, von Gerechtigkeit und Lohn. Hier auf Erden, da sind Hölle und Himmel, aber die Schlüssel zu beiden liegen in unserer Brust.

Drum mit Goethe: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“

Quelle: Privat