Von Catrin Möderler
„Mein Heinz!“
Mein Heinz – das hat meine Mutter immer gesagt, wenn sie über ihren Bruder gesprochen hat.
Heinz, ihr kleiner Bruder, nur zehn Monate jünger als sie, war ihre ganz große Liebe. Die Geschwister haben wie Kletten aneinander gehangen, die kurze Zeit, die ihnen miteinander vergönnt war. Obwohl sie älter war, hat meine Mutter, Käthe Hemme, später verheiratete Möderler, ihren Bruder vergöttert. Für alles, von dem er ihrer Meinung nach mehr hatte als sie. Den Sinn für Kultur, die Eleganz, den Intellekt, die Entschlossenheit.
Ich hätte viel von ihm, hat sie mir immer gesagt. Das „Künstlerische“, das leicht Kränkbare, den unbeugsamen Stolz, das Ehrgefühl. Das unerschütterliche Pflichtbewusstsein, Aufgaben zu erfüllen bis zum Ende. Auch zum bitteren, wenn es verlangt wird.
Ihr Heinz wollte Lehrer werden und war bereits in einer Ausbildung – wo und wie – die Unterlagen darüber sind verloren gegangen. Doch da tobte schon der Krieg. Vom Weg zu seinem Traumberuf wurde er weggerissen und ins Inferno geschickt. Nach Berlin kam er zu einem kurzen Drill. Meine Mutter, in den letzten Kriegsmonaten dienstverpflichtet als Polizeifunkerin in Emden, hat ihn heimlich und illegal, versteckt in Güterzügen, noch einmal dort besucht. Im Lazarett. „Die haben ihn so geschliffen, das hat er nicht vertragen, mein Heinz!“ Mehr hat sie nie erzählt. Sie konnte nicht. Die Tränen haben ihr die Stimme genommen.
Was sie gesehen hat in Berlin – in der Apokalypse der vernichtenden Luftangriffe – kam immer nur in Bruchstücken, fast beiläufig zu Tage. Sie konnte nicht offen darüber sprechen. Dass sie im Todeskampf schreiende Frauen gesehen hat, die in dem vom Feuersturm verflüssigten Asphalt stecken blieben und vor ihren Augen qualvoll starben, das hat sie einmal angedeutet. Wie sie ihren Bruder dort vorgefunden hat, nicht mehr. „Man muss nicht über alles reden!“ Der Schmerz war zu groß, ihr ganzes Leben lang. Bis zu ihrem eigenen Tod mehr als siebzig Jahre später.
Heinz wurde aus dem Lazarett an die Front geschickt. Nach Frankreich. Er ist sofort gefallen. Wenige Monate vor Kriegsende.
Zu ihrem achtzigsten Geburtstag habe ich mit meiner Mutter das Grab ihres Bruders auf der Kriegsgräberstätte Champigny-St. André in der Normandie besucht. Heinz Hemme ist einer der Unzähligen, deren sterbliche Überreste vom Verein „Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ geborgen und beigesetzt wurden. Zu sehen, dass ihr Heinz einen Platz hat, der ihm nicht mehr genommen werden wird, hat ihr Frieden gegeben. „Du musst dich darum kümmern, wenn ich einmal nicht mehr bin!“, hat sie mir gesagt. Ihre Mitgliedschaft bei der Deutschen Kriegsgräberfürsorge wurde nach ihrem Tod auf mich übertragen.
Catrin Möderler
Kulturjournalistin
Asbach, im September 2025