Emil Diedrich Vogt wird am 7. Februar 1911 als viertes Kind von Friedrich Wilhelm Vogt und Anna Mathilde Vogt in Hude geboren. Er ist der jüngere Bruder von Eduard Vogt, Gustav Vogt und Alfred Vogt und der ältere Bruder von Hanna Breas.
Zwei Tage vor Emils Geburt erlebt die deutsche Reichshauptstadt Berlin den größten Trauerzug ihrer Geschichte. Bei der Beerdigung des am 31. Januar 1911 verstorbenen SPD-Politikers Paul Singer begleiten Hunderttausende Singers Sarg von dessen Wohnung in Kreuzberg bis zum Zentralfriedhof Friedrichsfelde – manche Berichte sprechen gar von bis zu einer Million Menschen. Das dadurch verursachte Verkehrschaos beschreibt die in Magdeburg erscheinende, sozialdemokratisch orientierte Tageszeitung „Volksstimme“ in ihrer Ausgabe vom 7. Februar wie folgt: „Kutscher fluchten, Führer bearbeiteten die Klingel, Automobile saßen in der Menge einfach fest. Keiner kann vor- oder rückwärts. Die unfreiwillige Pause benutzen kühne Photographen, sich auf die Verdecke von Omni- und Autobus zu schwingen, um dort Aufnahmen zu machen. Am Eingang zur Ritterstraße ist die Masse gleichsam eingefroren, ein dichtgedrängter Wall von Menschenleibern.“
Bezeichnend: Die für den Tag nach der Beerdigung geplante Ausgabe der SPD-eigenen Parteizeitung „Vorwärts“ entfällt – offenbar befinden sich nahezu alle Beschäftigten vor Ort und schaffen es danach nicht rechtzeitig an ihren Arbeitsplatz. Deren Verehrung für Singer kommt nicht von ungefähr. Als einer der Haupt-Finanziers hatte der 1844 in Berlin geborene Sohn eines jüdischen Kaufmanns den Aufbau des „Vorwärts“-Verlages gegen Ende des 19. Jahrhunderts entscheidend vorangetrieben.
Trotz seiner bürgerlichen Herkunft engagiert sich Singer schon früh für die Sozialdemokratie. Als Kaufmann und Fabrikant steht er zunächst der Deutschen Fortschrittspartei nahe, orientiert sich aber 1868 nach einer Begegnung mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht neu. Seit 1890 ist er SPD-Vorsitzender, zunächst gemeinsam mit Alwin Gerisch, von 1892 an dann mit Bebel. Von antisemitischen und monarchistischen Kreisen einerseits immer wieder offen angefeindet, genießt er auf der anderen Seite angesichts diverser Ehrenämter auch außerhalb der SPD viel Respekt. Besonders hervorzuheben in diesem Zusammenhang ist sein Engagement im Berliner Asylverein für Obdachlose.
Als Nachfolger Singers wählt die Reichstagsfraktion der SPD am 9. Februar Hermann Molkenbuhr zu einem ihrer Vorsitzenden. Bei der Mitte September 1911 anstehenden Neuwahl zum Parteivorsitz haben Molkenbuhr und andere dem rechten Flügel angehörende Kandidaten wie Friedrich Ebert allerdings keine Chance: Bebel zur Seite stellen die Delegierten des in Jena abgehaltenen Parteitages den Königsberger Rechtsanwalt Hugo Haase. Wie die meisten anderen Mitglieder des linken Flügels spricht sich Haase gegen jede Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien aus und verfolgt einen strikt antimilitaristischen Kurs – was vor dem Hintergrund der Zweiten Marokko-Krise und zunehmender außenpolitischer Spannungen für hitzige Debatten zwischen den beiden Lagern sorgt.
Angesichts der in der Luft liegenden Kriegsgefahr kochen im Spätsommer 1911 nicht nur auf dem SPD-Parteitag in Jena die Emotionen über, sondern nahezu in ganz Europa. Während nationalistische Scharfmacher noch Öl ins Feuer zu gießen versuchen, gehen Millionen Menschen auf die Straße und demonstrieren für den Frieden. Die größte Kundgebung dieser Art mit mehr als 200.000 Teilnehmern findet wiederum in Berlin statt, am 3. September im Treptower Park.
Wie Emils Familie in Hude diese aufgeladene Atmosphäre erlebt, ist nicht überliefert. Ohnehin ist über ihre Lebens- und Wohnsituation in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg heute nur noch wenig bekannt. Vater Friedrich Wilhelm stammt aus Schleswig-Holstein, Mutter Anna Mathilde ist 1880 auf dem heutigen Hof von Hans-Helmut Quaas in Hudermoor geboren. Vor dem spätestens 1905 erfolgten Umzug nach Hude wohnt die Familie in Nordenholz, wo 1902 Emils ältester Bruder Eduard zur Welt kommt. Friedrich Wilhelm Vogt arbeitet zu dieser Zeit als Kutscher und Heuermann.
Seine durch den verlorenen Krieg und die politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen der frühen 1920er Jahre überschattete Schulzeit verbringt Emil vermutlich durchgehend in Hude. Nach Schulentlassung und Konfirmation macht er Karriere im Tiefbau – erste Einsatzorte in den späten Jahren der Weimarer Republik und konkrete Arbeitgeber in dieser Zeit sowie nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler liegen heute allerdings komplett im Dunkeln. Man darf jedoch annehmen, dass es Emil speziell nach 1933 in der Umgebung der neuernannten Gau-Hauptstadt Oldenburg an Arbeit nicht mangelt. Später ist er Mitglied der mit Schutz- und Rüstungsprojekten betrauten Organisation Todt, die unter anderem an der Grenze zu Frankreich den mehr als 600 Kilometer langen Westwall errichtet.
Wann und bei welcher Gelegenheit Emil seine spätere Ehefrau Anneliese Meyer zu Berstenhorst kennenlernt, lässt sich ebenfalls nur vermuten. Sehr wahrscheinlich spielt dabei die Verbindung von Schwester Hanna mit Fritz Breas Mitte der 1930er Jahre eine Rolle. Dessen Vater Otto Breas nämlich führt in Altmoorhausen eine gutgehende Bäckerei nebst Kolonialwarenladen, während Annelieses Eltern Friedrich und Anna Meyer zu Berstenhorst als Pächter den davon knapp 500 Meter entfernt liegenden Spinning-Hof bewirtschaften. Vielleicht lernen beide sich sogar auf der Hochzeit von Fritz und Hanna kennen.
Zieht Emil nach der im Dezember 1940 gefeierten Hochzeit mit Anneliese auf den Pachthof der Schwiegereltern? Auch darüber herrscht heute keine völlige Klarheit. Da Emil in seiner Funktion als Tiefbauingenieur beruflich viel unterwegs ist, lohnt sich ein eigener Hausstand für das junge Paar vermutlich zunächst nicht. Der im September 1939 durch den deutschen Angriff auf Polen ausgelöste Zweite Weltkrieg hat dann diesen möglicherweise geplanten Schritt vermutlich in noch weitere Ferne rücken lassen, und Anneliese bleibt weiter in Altmoorhausen wohnen.
Aus den späteren Aufzeichnungen von Emils und Annelieses 1941 geborenem Sohn Dieter geht hervor, dass Emil noch kurz vor der geplanten Hochzeit einen Auftrag im besetzten Dänemark abgearbeitet hat und sich danach von Anfang Februar 1941 an für sechs Wochen mit Anneliese in Hamburg aufhält. Dort feiern beide am 7. Februar Emils 30. Geburtstag. Als Emil im Frühjahr die Nachricht von Annelieses Schwangerschaft erhält, kauft er ihr zur Erinnerung an diese Hamburg-Reise eine von der Manufaktur KPM gefertigte Tänzerin aus Porzellan, die später alle Umzüge der Familie heil übersteht und sich bis zu dessen Tod 2022 in Dieters Obhut befindet.
Ein von Schwager Fritz Meyer zu Berstenhorst aufgegebenes Telegramm informiert Emil im November 1941 darüber, dass er Vater eines gesunden Jungen geworden ist. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet er für die Organisation Todt im besetzten Polen am Bau eines weiteren Führerhauptquartiers, vergleichbar der kurz zuvor in Ostpreußen errichteten Wolfsschanze. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion liegt da bereits fünf Monate zurück. Den Hitlers Wahn vom „neuen Lebensraum im Osten“ geschuldeten Versuch, den einstigen Bündnispartner in die Knie zu zwingen, soll Emil in kleiner, vertrauenswürdiger Runde wie folgt kommentiert haben: „Nun ist es aus, das hat nicht mal Napoleon geschafft!“
Der in seinen Augen von vornherein zum Scheitern verurteilte Angriff betrifft Emil wie kaum anders zu erwarten recht bald auch ganz persönlich: Er wird im Laufe des Jahres 1943 zur Wehrmacht eingezogen und tut fortan als Pionier Dienst an der Ostfront. Danach kommt er nur noch einmal auf Heimaturlaub nach Altmoorhausen, an Weihnachten 1944. Den schon Mitte Dezember jenes schicksalhaften Jahres beginnenden Aufenthalt beschreibt Sohn Dieter in seinen Erinnerungen wie folgt: „Seltsamerweise, so fand ich damals, trug er bei seiner Ankunft zwei verschiedene Schuhe. Am rechten Fuß saß der normale Militärschuh, blank geputzt, der linke aber steckte in einem überdimensionalen Puschen, wie wir sagten, einem großen Filzpantoffel. Warum das? Er erzählte dann, wie er in Russland auf einem Waldweg auf eine Tellermine getreten sei, die explodierte und ihm den halben Fuß weggerissen habe. Er hätte leicht tot sein können, meinte er, wenn er nicht zufällig so auf die Mine getreten wäre, und dann demonstrierte er uns, wie er sie getroffen hatte.“
Nach kurzem Lazarett-Aufenthalt ist Emil zur endgültigen Genesung für drei Wochen nach Hause geschickt worden. Die Hoffnung von Ehefrau Anneliese, mit der Verletzung müsse er vielleicht gar nicht mehr an die Front zurück, zerstreut er laut Dieters späteren Schilderungen sofort: „Die nehmen jetzt jeden, der auch nur kriechen kann; so eine Verwundung ist für die nur eine Lappalie.“ In Dieters Erinnerung ist es trotzdem ein schönes Weihnachtsfest. Zwar ohne Geschenke, aber in Ruhe und – zumindest in Altmoorhausen – in Frieden.
Im März 1945 kommt noch einmal ein letzter, bereits im Januar in der westpreußischen Festung Graudenz geschriebener Brief von Emil in Altmoorhausen an. Er berichtet davon, in den vorangegangenen Wochen „Schweres, ja fast Unmenschliches“ erlebt zu haben, und schließt in der Hoffnung, Frau und Kind noch einmal wiederzusehen. Eine Hoffnung, die sich letztlich nicht erfüllt. Der Brief bleibt das letzte Lebenszeichen von Emil, danach gilt er zunächst als vermisst. Erst 1973 erhält Witwe Anneliese vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge die endgültige Nachricht, dass Emil „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei den Kämpfen in und um Danzig im März 1945 gefallen ist. Ein Grab konnte nicht gefunden werden.“
Im Mai 2009 reist Dieter Vogt nach Danzig und sucht vor Ort nach Spuren des Vaters. Nach vorangehenden Recherchen im Militärarchiv in Freiburg und mit Hilfe eines polnischen Taxifahrers findet er tatsächlich die Stelle, an der Emils Gruppe am 22. März 1945 noch einen letzten Angriff auf die vor ihr liegenden sowjetischen Einheiten führen muss. Ein Erfolg oder das Überleben einzelner Soldaten ist nicht bekannt. Von der gesamten, ursprünglich mit allen ihren Unter-Abteilungen rund 20.000 Mann starken Pionier-Division, der Emil bis zu seinem Tod angehört, haben Dieters Nachforschungen zufolge gerade einmal fünf Männer den Krieg überlebt.