Hildegard Reil – Biographie

Hildegard Klara Johanna Reil wird am 6. März 1932 als erstes Kind von August Haverkamp und Berta Haverkamp in Munderloh geboren. Sie ist die ältere Schwester von Heino Haverkamp, Herbert Haverkamp, August Helmut Haverkamp und Werner Haverkamp.

Fünf Tage vor Hildegards Geburt entführen Unbekannte in den USA den 20 Monate alten Sohn des Atlantik-Fliegers Charles Lindbergh. In einem am Tatort zurückgelassenen Brief fordern sie ein Lösegeld von 50.000 US-Dollar. Die unmittelbar nach der Tat eingeleitete Fahndung der Polizei verläuft erfolglos. Danach dauern die Verhandlungen zur Geldübergabe über einen Monat lang an. Am 6. März erhöhen die Entführer ihre Forderung auf 70.000 Dollar, später sogar auf 100.000 Dollar. Am Ende geben sie sich aber doch mit der ursprünglich verlangten Summe zufrieden. Indes, der nach der Zahlung erfolgte Hinweis zum Aufenthaltsort des Opfers erweist sich als falsch. Charles Lindbergh Junior bleibt verschwunden – bis am 12. Mai 1932 wenige Meilen vom Lindbergh-Haus in Hopewell/New Jersey entfernt ein Lastwagenfahrer eher zufällig die notdürftig vergrabene und bereits stark verweste Leiche des Jungen entdeckt.

Weil Lindbergh seit seinem 1927 absolvierten Nonstop-Pionierflug über den Atlantik als eine Art Nationalheld gilt, ruft die Tat überall in den USA Entsetzen hervor. In den ersten Tagen erscheinen mehrmals täglich Extrablätter mit den neuesten Meldungen zum Ermittlungsstand. Nach dem Fund der Leiche fordern diverse Kommentatoren, für Kindesentführer die Todesstrafe einzuführen. Der Druck auf die Ermittler, endlich einen Fahndungserfolg zu verkünden, steigt von Monat zu Monat. Im September 1934 nimmt die Polizei den deutschen Immigranten Richard Hauptmann fest. Er wird angeklagt, zum Tode verurteilt und am 3. April 1936 auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. An Hauptmanns Schuld bestehen allerdings bis heute starke Zweifel: Im Nachhinein gelten viele Beweise als verfälscht oder konstruiert, entlastendes Material wurde späteren Recherchen zufolge von den Behörden systematisch unterdrückt.

Auch in Deutschland berichten die Zeitungen anfangs ausführlich über die Entführung des Lindbergh-Babys. Schnell stehen dann allerdings wieder innenpolitische Themen im Vordergrund – allen voran die sich immer stärker zuspitzende Wirtschaftslage mit Millionen von Arbeitslosen und die bevorstehende Reichspräsidentenwahl vom 13. März 1932. Im ersten Wahlgang verfehlt Amtsinhaber Paul von Hindenburg die nötige absolute Mehrheit knapp, setzt sich aber vier Wochen später in der Stichwahl mit 53,1 Prozent gegen die Mitbewerber Adolf Hitler (NSDAP) und Ernst Thälmann (KPD) durch. Den Niedergang der Republik stoppt dieser Erfolg freilich nicht: Neun Monate später ist Hitler Reichskanzler, das im März 1933 vom Reichstag verabschiedete Ermächtigungsgesetz ebnet den Weg in den NS-Staat.

Die von Hitler propagierte „nationalsozialistische Revolution“ verändert das Leben in Deutschland radikal – auch in Altmoorhausen, wo Hildegard inzwischen mit ihren Eltern in einer kleinen Dachgeschosswohnung der Dorf-Gaststätte „Zum Wunderhorn“ (heute: Crown Event Location) lebt. Als im April 1934 Bruder Heino die Familie bereichert, sind bereits alle wichtigen Institutionen des zuvor bestehenden Rechtstaats wie Justiz und Presse gleichgeschaltet, Regimegegner verhaftet, Gewerkschaften und andere Organisationen verboten. Der Geburt von Herbert im Juni 1935 geht die Gründung der Wehrmacht voraus, die Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze steht unmittelbar bevor. Bei August Helmuts Ankunft im Februar 1938 wiederum stehen die Zeichen in Europa bereits auf Krieg. Er bricht nur deshalb nicht sofort aus, weil Großbritannien und Frankreich Hitler im Ende September 1938 geschlossenen Münchner Abkommen zur Zukunft der Tschechoslowakei noch einmal weitreichende Zugeständnisse machen.

Kurz nach Hildegards Einschulung in die von Friedrich Hartmann geleitete Volksschule Altmoorhausen im Frühjahr 1938 zieht ihre Familie aus der längst zu klein gewordenen Dachgeschosswohnung in ein zum Hof von Georg und Meta Mitwollen gehörendes Heuerhaus, wo sie anders als im Gasthof die Möglichkeit hat, einige Hühner und Schweine für den Eigenbedarf zu halten. Vater August arbeitet derweil weiter als Verkaufsfahrer für den ebenfalls in der Nachbarschaft ansässigen Bäcker und Kolonialwaren-Händler Otto Breas. Vier Monate vor Werners Geburt beginnt der Zweite Weltkrieg, an dem August Haverkamp von Beginn an teilnimmt. Hildegard bekommt ihn fortan nur noch selten zu Gesicht. Um Mutter Berta zu entlasten, übernimmt sie mit fortschreitendem Alter neben der Schule mehr und mehr Verantwortung im Haushalt und für ihre jüngeren Brüder.

Mag der Krieg in der Heimat anfangs auch weit weg sein, allgegenwärtig ist er doch. Nicht nur durch das plötzliche Fehlen von nahen Angehörigen und Nachbarn, sondern auch durch die Anwesenheit von Kriegsgefangenen. Ein entsprechendes Lager wird nach dem erfolgreichen Frankreich-Feldzug im benachbarten Lintel eingerichtet. Einige der dort inhaftierten Franzosen helfen auch in Altmoorhausen in der Landwirtschaft aus. Einen von ihnen lernt Hildegard etwas näher kennen – er wird ihr beibringen, auf Französisch zu zählen. Andere Erinnerungen an diese Zeit sind die sich häufenden Aufenthalte im Bunker des Mitwollen-Hofes, ein aus Fallschirmseide geschneidertes Kleid und natürlich das Jaulen feindlicher Bombenflugzeuge, das sie auch Jahrzehnte später immer noch im Ohr hat.

Wie Hildegard die letzten Kriegswochen und die Einnahme Altmoorhausens durch kanadische Truppen erlebt, ist nicht überliefert. Dass ihr letztes, irgendwann im Sommer 1945 beginnendes Schuljahr nicht unbedingt in geordneten Bahnen verläuft, lässt sich jedoch unschwer erahnen. Immerhin: Vater August hat das mehr als fünf Jahre andauernde, mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endende Inferno halbwegs unbeschadet überstanden und kehrt im Sommer 1946 nach Hause zurück. Zu diesem Zeitpunkt hat Hildegard die Schule bereits abgeschlossen und arbeitet als Magd auf einem Hof in Hurrel, dessen Eigentümer Adolf Sparke sich noch in britischer Kriegsgefangenschaft befindet. Ihre Familie ist derweil noch einmal umgezogen und bewohnt nun ein vom Mitwollen-Hof rund 250 Meter entfernt liegendes Haus am Pohlweg.

Im Frühjahr 1948 wechselt Hildegard auf den ebenfalls am Pohlweg liegenden Hof von Hermann Grummer (heute: Henning Strudthoff). Dort leben neben dem 70-jährigen Eigentümer dessen durch den Krieg verwitwete Tochter Hermine und vier Enkelkinder, um die Hildegard sich neben der täglichen Arbeit in der Landwirtschaft kümmert. Weitere Stationen sind die Gastwirtschaft Wachtendorf in Hude (heute: Burgdorfs Hotel & Restaurant), der Hof von Friedrich Stöver in Kreyenbrück und schließlich der Hof des Oldenburger Auktionators Wilhelm Brick. Letzterer ist mit Hildegards Arbeit sehr zufrieden und bietet ihr Erzählungen aus der Familie zufolge sogar an, auf seine Kosten einen Führerschein zu machen – womit Vater August sich aber partout nicht anfreunden kann.

Eine mit viel Arbeit ausgefüllte Sechs-Tage-Woche, das ist zu Beginn des Wirtschaftswunders in der gerade erst ins Leben gerufenen Bundesrepublik Deutschland die Regel. Der Samstagabend jedoch gehört insbesondere bei jungen Leuten dem Vergnügen. Hildegard macht da keine Ausnahme und geht gern und häufig ins Kino oder besucht Tanzlokale in ihrer näheren Umgebung. Bei einem dieser Besuche lernt sie Johann Reil aus Nordloh bei Apen im Ammerland kennen. Mögen das genaue Datum und die näheren Umstände heute auch im Dunkeln liegen: Dass mehr daraus wird als eine flüchtige Begegnung, zeichnet sich vermutlich schnell ab.

Hildegard und Johann verloben sich im November 1955. Johann lebt mit seiner verwitweten Mutter Altje-Lina und den jüngeren Brüdern Erwin und Manfred auf dem Hof eines Nordloher Bauern, der nun auch zu Hildegards Zuhause wird. Zwei Monate nach der am 7. April 1956 gefeierten Hochzeit bringt sie einen Sohn namens Friedhelm zur Welt – von dem sie sich aber nur einen Tag später wieder verabschieden muss. Ein schwerer Schlag in einem ohnehin schwierigen Umfeld, denn das Verhältnis zur Schwiegermutter ist anfangs nicht frei von Spannungen.

Der Nordloher Bauer, der schon bald nach Friedhelms Tod ebenfalls stirbt, hat Johann zu seinem Nachfolger bestimmt. Angesichts einer Hof-Größe von lediglich acht Hektar kein allzu üppiges Erbe, doch Mitte der 1950er Jahre reicht das allemal für einen landwirtschaftlichen Vollerwerb – in den Hildegard in den folgenden Jahren voll eingebunden ist. Daneben bringt sie mit Wilfried (September 1957) und Helmut (März 1959) zwei weitere Kinder zur Welt. Noch vor der Geburt des vierten Sohnes Wolfgang im Dezember 1961 stellt Johann dann die beruflichen Weichen neu und arbeitet fortan hauptberuflich als Fahrer für das Oldenburger Busunternehmen Pekol. Als Nebenerwerbsbetrieb mit knapp einem Dutzend Kühen und anfangs auch einigen Schweinen und Hühnern bleibt der Reil-Hof allerdings bestehen, so dass der Arbeitsaufwand für Hildegard eher steigt als sinkt.

Mit Anke (Dezember 1962), Ursula (November 1965) und Manfred kommen bis Januar 1967 noch drei weitere Kinder hinzu. Überschattet werden diese freudigen Ereignisse vom frühen Tod der Eltern in Altmoorhausen: Mutter Berta stirbt im April 1964 nach längerer Krankheit, Vater August im Januar 1967 bei einem Verkehrsunfall. Ein Schicksal, das im Mai 1968 im Alter von nur 34 Jahren auch Hildegards Bruder Heino ereilt. In Nordloh wiederum stirbt im Januar 1973 Schwiegermutter Altje-Lina mit 71 Jahren.

Die folgenden anderthalb Jahrzehnte sind für Hildegard weiter ausgefüllt mit Stall- und Feldarbeit, Haushalt und der Fürsorge für die Kinder – an einen Acht-Stunden-Tag oder gar Urlaub ist nicht zu denken. An den Wochenenden oder in den Ferien durchbrechen Tagestouren im familieneigenen Opel Kadett die Routine, lange Winterabende werden zum Häkeln, Stricken und Sticken genutzt. Läuft dabei der Fernseher, schaut Hildegard gern alte Spielfilme mit Heinz Rühmann oder Hans Albers – den „blonden Hans“ hat sie eigenen Erzählungen zufolge einmal ganz aus der Nähe gesehen, als dieser Anfang der 50er Jahre für einen kurzen Auftritt in Oldenburg Station macht.

Die 90er Jahre beginnen für Hildegard mit der Geburt von Enkeltochter Melanie. Ihr folgen bis zur Jahrtausendwende mit Julia, Tobias, Svenja, Annika, Jacqueline, Emma, Mareike, Harm-Jan und Janina noch neun weitere Enkelkinder. Sich in fast jedem Jahr auf ein neues Familienmitglied freuen zu können, hilft Hildegard möglicherweise dabei, ihre lange vor Melanies Geburt erstmals auftretenden gesundheitlichen Probleme zumindest ein Stück weit in den Griff zu bekommen. Asthma, Diabetes und zunehmende Herzprobleme beeinträchtigen bereits seit den 70er Jahren ihren Alltag.

Johanns Ruhestand und die weitere Verkleinerung des Hofes bis zur endgültigen Aufgabe im Jahr 2000 bringen für Hildegard eine spürbare Entlastung und lassen mehr Raum für gemeinsame Aktivitäten. Viel unternehmen beide beispielsweise mit Johanns ehemaligen Arbeitskollegen bei Pekol, Hildegard trifft sich darüber hinaus regelmäßig mit ihren Nachbarinnen zu Kaffee-Nachmittagen. Den Kontakt zu ihren in Altmoorhausen gebliebenen Brüdern Herbert und Werner – der zweitjüngste, in Tweelbäke wohnende Bruder August Helmut ist im Sommer 1999 verstorben – hält sie über all die Jahre bis zum Schluss. Sie sind selbstverständlich auch dabei, als Hildegard im März 2002 im von Dieter und Karin Wicht geführten „Altmoorhauser Krug“ (dem ehemaligen „Wunderhorn“) ihren 70. Geburtstag feiert. Eine von Johann und den Kindern organisierte Überraschung, die Hildegard noch einmal an den Ort ihrer frühen Kindheit zurückführt.

Hildegard stirbt am 24. Juni 2005, drei Monate nach ihrem 73. Geburtstag. Beerdigt ist sie vier Tage später auf dem Friedhof Nordloh.