Persönliche Erinnerungen an Georg Hemme

CATRIN MÖDERLER

Erinnerungen an meine Großeltern Georg und Bernhardine Hemme, Altmoorhausen

Vier Uhr zehn

Das letzte Stück, das ich an mich genommen habe, bevor ich die aufgelöste Wohnung meiner Mutter in Stuttgart nach ihrem Tod dem Entrümpler überließ, war die Armbanduhr ihres Vaters Georg Hemme. „Onkel Hemme“, wie ihn alle Nachbarn und Freunde in Altmoorhausen und weit darüber hinaus immer genannt haben. Mein lieber Opa.

Die Armbanduhr, ein schlichtes, dafür umso robusteres Modell, hat Opa getragen, seit ich denken kann. Meine Erinnerung an ihn setzt ein mit der ersten Reise, die meine Mutter mit mir als Dreijähriger im Sommer 1968 per Eisenbahn in ihre alte Heimat unternahm. Vorher sind Oma und Opa zwar schon einige Male in Opas Auto zu uns nach Stuttgart gekommen – Opa war immer ein begeisterter Autofahrer – aber ich war einfach noch zu klein, um von diesen Besuchen irgendetwas zu behalten. Die erste Reise mit dem Zug zu Oma und Opa hat sich mir dafür umso intensiver eingeprägt.

Die Fahrt von Stuttgart nach Hude war zu jener Zeit, lange vor den beschleunigten IC- und ICE-Strecken, ein ausgesprochen langwieriges Unterfangen. Die Route führte über Frankfurt a. M. – mit einem endlosen Halt wegen anzukoppelnder Postwaggons – Kassel, Bad Pyrmont, Nienburg an der Weser, Verden an der Aller und Bremen. Oma Bernhardine hatte meiner Mutter für die erste Reise mit mir eine klare Anweisung erteilt: In Kassel, etwa auf der Hälfte der Strecke, müsse sie mir an einem der Servicewägelchen, die damals in den größeren Bahnhöfen außen an den Fenstern der Abteile vorbeigerollt wurden, um die Reisenden mit Speisen und Getränken zu versorgen, ein Eis kaufen. Ich bekam einen runden Becher aus Pappe, bis knapp unter den Rand mit der kalten Masse gefüllt, die Oberfläche präzise in zwei Hälften geteilt. Eine weiß, eine rosa. Vanille und Erdbeere. Dazu ein kleines hölzernes Löffelchen. Nur für mich. Vielleicht war es allein schon dieser Eisbecher, der Reisen nach Altmoorhausen in meinem Herzen für immer mit dem Gefühl vollendeter Glückseligkeit verbunden hat.

Wie lang – und für Erwachsene vermutlich unendlich langweilig – diese Reise im Zug war, entging mir damals komplett. Es gab einfach zu viel zu entdecken. Ein Zugabteil war zu jener Zeit, noch vor dem alles dominierenden Werkstoff „Plastik“, ein hochwertig gearbeitetes Coupé mit Wänden aus poliertem Holz, vor dem Fenster sauber gefältelte, auf- und zuziehbaren Stoffvorhänge zum Sonnenschutz. Die Flächen der mit grünem Samt gepolsterten Sitze ließen sich so weit nach vorne ziehen, dass aus zwei gegenüberliegenden Sitzen eine Art von Sofa werden konnte. In die Armstützen eingeklappt waren herausziehbare kleine Ablagen für alles, was während der Reise so gebraucht wurde. Alles musste natürlich ausgiebig von mir ausprobiert werden. Über den Sitzen spannten sich die Gepäcknetze aus fischernetzartig in Rauten geknoteten, glänzend-elfenbeinfarbenen Schnüren und – Gipfel des Abenteuers – unter den Sitzen versteckten sich Fußbänkchen. Die auf allen Vieren krabbelnd erfolgende Suche nach diesen Fußbänkchen, deren Sinn sich mir mit meinen kurzen Kinderbeinchen damals noch in keiner Weise erschloss, hat sich, genauso wie der grüne Samt der Sitzpolster, so unauslöschlich in meine Erinnerung eingeschrieben, dass ich die Szene fünf Jahrzehnte später in meinem ersten Buch verwendet habe. Transferiert ins 19. Jahrhundert, das kleine Mädchen statt meiner eine dereinst berühmte Operettensoubrette – eine minutiös beschriebene Szene in einer historischen Biographie, die die Leserschaft vermutlich für gut erfunden hält und von der nur ich weiß, dass sie tatsächlich so stattgefunden hat.

In Bremen stiegen wir um in den Regionalzug nach Hude. Ohne schöne Abteile. Stattdessen mit durchgehenden Waggons und einander gegenüberliegenden, diesmal tatsächlich schon kunststoffgepolsterten Sitzbänken. Dieses letzte Stück der Reise bei reduziertem Komfort fiel mir jedoch kaum noch auf, da ich erfüllt war von erwartungsvoller Spannung. Denn am Bahnhof in Hude wartete Opa neben seinem Auto. Ein lächelnder weißhaariger Herr im hellgrauen Anzug, mit einem hellgrauen Sommerhut auf dem Kopf und einer großen Hornbrille auf der Nase. Opa hat sich grundsätzlich, bis ins höchste Alter, ausgesucht gepflegt gekleidet, wenn er das Haus verlassen hat. Dabei stand seine elegante Aufmachung immer in einem gewissen Gegensatz zu seinen von lebenslanger schwerer Arbeit gezeichneten Händen. Seine Brille hat Opa jedesmal abgesetzt, bevor er mich in die Arme genommen hat. Ich hatte Angst, von dem kantigen Rahmen ins Gesicht gedrückt zu werden. Das Risiko hat Opa ausgeräumt. So wie er mir auch sonst immer jeden meiner Kinderwünsche erfüllt hat, an den ich mich erinnern kann. Als wir vor seinem schönen roten Ziegelhaus in Altmoorhausen mit dem markanten Erker und dem für die Gegend typischen Krüppelwalmdach vorfuhren und Opa das große, hellblau gestrichene Gatter öffnete, das die Zufahrt zur Garage zur Straße hin verschloss, tat sich für mich das Tor zu meiner sommerlichen Märchenwelt auf.

Einen Sandkasten hatte Opa mir gebaut in seinem Garten. Einen Sandkasten und eine Schaukel. Diese wunderbaren Spielgeräte, die ich als kleines Kind so geliebt habe und die ich mir auf meinem Spielplatz in Stuttgart mit all den anderen Kindern des Viertels teilen musste. Bei Opa hatte ich sie ganz für mich allein. Mit vielen bunten Förmchen und einer Sandmühle, die groben Sand in feinen verwandelte. Ich habe unzählige Sandkunstwerke geschaffen damals.

Überhaupt war Opas Anwesen ein einziger Quell der Wunder für mich. Neben meinem Sandkasten befand sich eine große runde, mit einem schweren Betondeckel verschlossene Zisterne. Opa hatte seinen eigenen Brunnen, das Wasser aus den Leitungen kam damals noch nicht vom städtischen Wasserwerk. Gebohrt wurden diese Brunnen ganz traditionell, nachdem die Männer des Ortes die richtige Stelle mit der Wünschelrute gefunden hatten. Damals etwas völlig Selbstverständliches, fern von jeder „Spökenkiekerei“. Das Wort „Esoterik“ war ohnehin noch nicht erfunden. Opa konnte Wünschelrutengehen, meine Mutter konnte es auch. Ich hatte nie die Gelegenheit, es zu versuchen – ich fürchte aber, ich kann es nicht.

Wegen des moorigen Bodens war das Wasser, das aus Opas Zisterne durch die Wasserhähne kam, leicht gelblich gefärbt, was mich als kleines Kind zunächst erschreckte. Schließlich kannte ich nur das glasklare, dafür beinharte, reichlich chlor- und kalkhaltige Wasser aus den Stuttgarter Leitungen. Die unvergleichlich haar- und hautfreundliche Qualität des samtweichen Altmoorhausener Moorwassers weiß ich erst heute in der Rückschau wirklich zu schätzen.

In Oma Bernhardines Wirtschaftsgärtchen neben dem Haus wuchsen Bohnen an hohen Spalieren, Johannisbeeren in allen Farben, Schwarzwurzeln, Kartoffeln, Stachelbeeren, Erbsen, Gürkchen, rote Beete und sicherlich noch viele andere Dinge, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Doch an ihre Möhren erinnere ich mich. Denn Oma nahm mich an der Hand und zeigte mir, wie ich eine reife Möhre an ihrem grünen Blätterschopf packen und aus der feinpudrigen, schwarzgrauen Altmoorhausener Erde herausziehen könne. Das erste und letzte Mal, dass ich, das Großstadtkind, einen so intensiven Kontakt zu diesem Gemüse hatte. Seither beziehe ich Möhren nur noch in Plastik verpackt aus dem Supermarktregal. Den Ertrag ihrer Ernten, so er nicht direkt verbraucht wurde, hat Oma eingekocht. Die Einweckgläser mit Bohnen, Gurken und allen anderen Gemüsen standen zusammen mit den Marmeladen und Gelees aus den diversen Früchten des Gartens im Keller des Hauses. Nur zur Hälfte gemauert, ein großer Teil der Wand war Naturstein. Ein einzigartiges Raumklima, das jede Art von Aufbewahrung optimierte. Der unverwechselbar lehmige Geruch in diesem Keller steigt mir noch heute in die Nase, wenn ich mich an die Zeit bei Oma und Opa erinnere.

Der Garten rund um Opas Haus war riesig. Zumindest für mein Empfinden als kleines Kind. Außer Omas Wirtschaftsgärtchen gab es auf dem Gelände noch das aus dunkelroten Ziegeln gemauerte Häuschen, dessen eine Hälfte als Garage für Opas Auto diente, die andere Hälfte als eine Art von Werkstatt mit einigen alten Fahrrädern, vielen Werkzeugen und einem Amboss. Dieses Wort und seine Bedeutung habe ich damals von Opa gelernt. Bei jeder Aufführung von Wagners „Ring des Nibelungen“ denke ich bis heute, sobald Mime der Schmied auftritt, an meinen Opa Georg Hemme, den Schmied von Altmoorhausen.

Zwischen Haus und Garage stand ein Kirschbaum. Sauerkirschen. Mir damals noch völlig unbekannt. Ich kannte nur die klassischen Süßkirschen. Doch immer im Sommer, wenn meine Mutter und ich auf Besuch zu Opa kamen, waren seine Sauerkirschen gerade reif. Ich habe sie geliebt. Ebenso wie die blassgrünen Äpfel mit dem schneeweißen Fleisch, die auf einem Baum direkt vor der Terrasse seines Hauses wuchsen. Diese herbstlichen Früchte waren bei unseren Besuchen sicher noch nicht reif – gegessen habe ich sie trotzdem.

Opa, der begeisterte Autofahrer, nutzte die Gelegenheit unserer Besuche immer für lange Ausflüge, um mir so viel wie möglich von seiner Heimat zu zeigen. Das Museumsdorf von Cloppenburg – die kleine Heidschnucke von der Spielzeugmanufaktur Steiff, die ich dort von ihm geschenkt bekommen habe, besitze ich heute noch – die Visbecker Braut und ihren Bräutigam, die Nordseeinseln, die Lüneburger Heide, den Weser-Sandstrand beim Fährhaus Farge, die Oldenburger Innenstadt mit dem Schloss von Graf Anton Günther, für dessen Verdienste um Oldenburg im Dreißigjährigen Krieg und für dessen schönes Pferd „Kranich“ mit der bodenlangen Mähne Opa eine besondere Hochachtung hegte, und unzählige Orte mehr habe ich durch ihn kennengelernt. Ein Ausflug nach Neuharlingersiel ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. An dem mitten in der historischen Innenstadt gelegen Fischereihafen kaufte Opa auf einem der Kutter eine Tüte Krabben und brachte mir das Krabbenpulen bei. Obwohl rohe Schalentiere vielleicht nicht die typische Speise für ein kleines Kind sind – ich habe es geliebt. Außerdem wurde ein Besuch gemacht in einem der alten Häuser am Hafen. Onkel und Tante Jansen, beide für meine kindliche Wahrnehmung uralte Leute, warteten hier mit einer echt friesischen Teezeit auf uns. Die Sorgfalt, mit der Tante Jansen dickflüssigen Rahm von einem silbernen Löffel langsam in die blau-weiß gemusterten Tassen laufen ließ, damit sich Tee und Sahne nicht sofort vermischten, natürlich erst, nachdem der heiße Tee die „Kluntjes“, die dunkelbraunen Kandiszuckerstücke auf dem Boden der Tasse beim Einschenken zum Knistern gebracht hatte, versuche ich bis heute nachzumachen, wenn ich Gästen Tee serviere. Ob Onkel und Tante Jansen tatsächlich entfernte Verwandte waren oder nur Bekannte aus Opas Jugendzeit, habe ich nie herausgefunden. Über Onkel Jansen bemerkten die Erwachsenen jedenfalls mit ehrfurchtsvoll gesenkten Stimmen, er sei beim Boxeraufstand in China gewesen. In einem Tonfall, als sei der Boxeraufstand in China so etwas allgemein Bekanntes wie Weihnachten oder Ostern. Ich habe folglich nicht zu fragen gewagt und es irgendwann auch wieder vergessen. Erst Jahrzehnte später las ich dann, dass der Boxeraufstand ein Volksaufstand in China gegen zunehmende ausländische Einflussnahme war, der von Entsatztruppen diverser europäischer Mächte, unter anderem des Deutschen Kaiserreiches, gewaltsam und unter großen Verlusten auf beiden Seiten niedergeschlagen wurde. Anno 1900. Onkel Jansen muss also mindestens fünfzehn Jahre älter gewesen sein als Opa. Achtundsechzig Jahre nach dem Boxeraufstand somit tatsächlich schon „uralt“.

Auch in Opas Haus in Altmoorhausen hatte der Ferne Osten eine Spur hinterlassen. Oma Bernhardine stammte aus einer Bremer Seefahrerfamilie, deren Männer – so die Erzählungen meiner Mutter – manchmal jahrelang ohne Nachricht an ihre Frauen auf den Weltmeeren unterwegs waren. Doch so sie denn gesund zurückkehrten, brachten sie exotische Geschenke von ihren Fahrten mit. Einmal hat wohl sogar eine vollständige Bananenstaude zum Nachreifen in einem Baum im Bremer Garten gehangen. Ein anderes Geschenk, dessen noch verbliebene Teile sich bis heute in meinem Besitz befinden, war ein kunstvolles chinesisches Teeservice mit Tassen aus hauchdünnem Porzellan. Oma hat es nur zu allerfeierlichsten Anlässen aus dem Schrank geholt.

Ein schön gedeckter Tisch war Oma ungemein wichtig. Eine Eigenschaft, die sie, genau wie die große Leidenschaft für Kaffee, an meine Mutter und mich weitervererbt hat. Feine Tischwäsche, natürlich selbst gehandarbeitet, gehörte ebenso dazu wie ordentliches Geschirr und Besteck. Bereits das Frühstück wurde zelebriert. Gerne auch schon mit einem Stück Kuchen oder einer anderen kleinen Besonderheit. Meine Lieblingsspeise, die ich durch Oma kennengelernt habe, war Honigkuchen „mit ganz dick Butter“. Als mich Oma einmal fragte, nach dem ich vermutlich schon mehrere Scheiben davon verzehrt hatte, was ich denn gerne noch haben wolle und ich nochmal um Honigkuchen mit ganz dick Butter bat, begann meine Mutter – von Kopf bis Fuß verantwortungsvolle Erziehungsberechtigte – vehement zu widersprechen. Das sei doch alles viel zu süß und viel zu fett für das Kind. Doch sie hatte nicht mit ihrer eigenen Mutter gerechnet. Mit einem strengen Blick auf ihre Tochter und der unmissverständlichen Ansage, dass das ihr Haus sei und sie entschiede, was hier geschehe, nahm Oma mich bei der Hand, führte mich zu der Klappe in ihrer Küchenanrichte, hinter der sie ihre Backwaren aufbewahrte und meinte: „Jetzt holst du dir deinen Honigkuchen und tust dir ganz dick Butter drauf.“ Dieser glückliche Moment ist meine letzte Erinnerung an Oma Bernhardine. Nur wenige Monate später starb sie, völlig überraschend, nach einem Eingriff am Herzen, in der Nacht vor ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus an einer Lungenembolie.

Nach Omas Tod besuchte uns Opa wieder öfter in Stuttgart. Es waren die schönsten Tage für mich, wenn er mich aus dem Kindergarten abholte. Mein Opa aus dem fernen Norddeutschland. Das war schon was. Opa war patent und wußte sich alleine zu helfen. Wie man richtig Kartoffeln kocht, hat er mir gezeigt. Schälen konnte er sie in einem einzigen langen Stück. Mit seinem Taschenmesser. Er konnte Knöpfe annähen, Bratkartoffeln machen und Zitronenkuchen backen. Wahrscheinlich alles Errungenschaften aus seiner Zeit bei der Kaiserlichen Kriegsmarine. Er konnte wunderbar mit mir Domino spielen, das Kreuzworträtsel in der Nord-West-Zeitung lösen, ein Lego-Haus bauen und mir Geschichten auf Plattdeutsch erzählen. Verstanden habe ich alles. Sprechen konnte ich es nie, da ich mit dem Wiener Zungenschlag meines Vaters aufgewachsen bin.

Neben all den unzähligen glücklichen Erinnerungen an die Zeiten bei Oma und Opa im roten Ziegelhaus in Altmoorhausen ist erstaunlicherweise die einzige Erinnerung, die negativ sein könnte, vollständig verblasst: Die Erinnerung an Zigarettenqualm. Ich selbst habe nie geraucht und jede noch so kleine Spur von Zigarettenaroma ist mir extrem unangenehm. Nur bei Opa hat es mich nie gestört. Dabei war Opa Kettenraucher. Selten war er ohne Zigarette in der Hand zu sehen. Abends kam gerne auch mal die ein- oder andere dicke Zigarre hinzu. Überall hat es nach Rauch gerochen. Im Haus, im Auto – einfach überall. Aber ich habe es als völlig normal empfunden. Das Rauchen gehörte so untrennbar zu Opa, dass es – zumindest solange es ihn gab – keine negative Qualität mehr für mich hatte. Opa selbst hat in seinen späten Jahren allerdings den Preis für seine Leidenschaft zahlen müssen. Diverse schwere Leiden, darunter die berüchtigten „Raucherbeine“, haben ihm zuletzt qualvoll zugesetzt. Dennoch konnte er noch seinen achtzigsten und auch seinen fünfundachtzigsten Geburtstag feierlich begehen. Die Kameraden seiner geliebten Feuerwehr, der er jahrzehntelang vorgestanden hatte und deren Ehrenbrandmeister er war, marschierte zur Ehrenbekundung auf, die Opa in seiner dunkelblauen Feuerwehruniform mit den Ehrenzeichen salutierend entgegennahm. Danach wurde vor den strengen, wenn auch vor Rührung tränenfeuchten Augen des Ehrenbrandmeisters mit zwei großen Feuerwehrautos im Garten von Opas Haus eine Löschübung präsentiert. Wenn auch auf seinen Stock gestützt, beobachtete Opa alles im Stehen. Kerzengerade. Als sich sein Schicksal schließlich erfüllte, war Opa fast neunundachtzig Jahre alt. Die „Hemmesche Langlebigkeit“, von der meine Mutter immer gesprochen hat. Sie selbst starb in ihrem zweiundneunzigsten Lebensjahr.

Als ich nach dem Tod meiner Mutter – genau dreißig Jahre nach dem Dahingang ihres Vaters, meines lieben Opas – mit unzähligen Umzugskisten und Opas Armbanduhr als letztem Souvenir meiner Kinderzeit aus ihrer aufgelösten Wohnung in Stuttgart an meinen rheinischen Wohnsitz zurückkehrte, musste ich, um nicht im Traum weiter Schränke zu leeren und Kisten zu schleppen, noch einige Stunden in meinem Zimmer sitzen und meine Gedanken schweifen lassen. Als ich mich schließlich müde genug für die Nachtruhe fühlte, war es laut dem Display meines Handys vier Uhr zehn. Allerdings wollte ich zuerst noch einen angemessenen Platz für Opas Armbanduhr finden. „Sie geht ja sicher nicht mehr“, dachte ich, als ich das so vertraute Stück in meiner Hand betrachtete. Dennoch drehte ich ganz unwillkürlich an der Aufziehschraube und zu meiner großen Überraschung begann Opas Uhr zu ticken. „Wenn sie doch geht, dann muss ich sie ja auch stellen“, beschloss ich und schaute auf das Zifferblatt. Die Uhr, die seit dreißig Jahren gestanden hatte und die niemand seither wieder angefasst hatte, zeigte – vier Uhr zehn.

Catrin Möderler
Kulturjournalistin

Asbach, im August 2025