Anna Hartmann – Biographie

Anna Marie Hartmann wird am 3. Mai 1893 als viertes Kind von Elimar Rust und Anna Elise Rust auf dem elterlichen Hof in Ellenserdamm bei Dangast geboren. Sie ist die jüngere Schwester von Friedrich Rust, Margarete Boekhoff und Antonie Harms.

Drei Tage nach Annas Geburt löst Kaiser Wilhelm II. in Berlin auf Betreiben von Reichskanzler Leo von Caprivi den Reichstag auf. Vorausgegangen ist der gescheiterte Antrag des Kanzlers, die Friedensstärke des deutschen Heeres um 84.000 Mann auf rund 500.000 Mann aufzustocken, verbunden mit einer Reduzierung der Dienstpflicht von drei auf zwei Jahre. Gegen die Vorlage hatten die Sozialdemokraten votiert sowie eine Mehrheit des Zentrums und der Deutsch-Freisinnigen Partei (DFP). Wilhelm setzt daraufhin für den 15. Juni 1893 Neuwahlen an – in der Hoffnung, das angestrebte Ziel mit Hilfe des dann neu zusammengesetzten Reichstags doch noch zu erreichen.

Bei der erst 1884 durch den Zusammenschluss der Liberalen Vereinigung mit der Deutschen Fortschrittspartei entstandenen DFP kommt es unmittelbar nach der Abstimmung zu einem Zerwürfnis. Weil sechs Abgeordnete um Deutsche-Bank-Vorstand Georg Siemens entgegen der Parteilinie für die Heeresvorlage gestimmt haben, beantragt einer der Wortführer des linken Flügels, der aus Düsseldorf stammende Publizist Eugen Richter, den Ausschluss der Abweichler aus der Fraktion. Der Antrag geht mit knapper Mehrheit durch, führt danach aber zur Spaltung: Eine weitere, als eher gemäßigt geltende Gruppe um den Juristen Karl Schrader erklärt ihren Austritt und bildet zusammen mit den Abweichlern die Freisinnige Vereinigung. Die verbliebenen Mitglieder wiederum stellen sich unter dem Namen Freisinnige Volkspartei neu auf.

Die Neuwahlen bescheren den gespaltenen Liberalen Verluste: Statt wie ursprünglich über 66 Mandate verfügen sie im neuen Reichstag nur noch über 37 Mandate, wovon 24 auf die Freisinnige Volkspartei entfallen. Zugewinne gibt es außer für die SPD für die Deutschkonservativen, die Freikonservativen und die Nationalliberalen. Von den 392 Abgeordneten stimmen später 201 für die Heeresvorlage und verhelfen von Caprivi somit, wenn auch nur knapp, zur gewünschten Mehrheit.

Einer der 24 weiter eher regierungskritisch eingestellten Abgeordneten der Freisinnigen Volkspartei ist Albert Traeger. Der ursprünglich aus Augsburg stammende Rechtsanwalt vertritt im Reichstag den Wahlkreis Friesland, zu dem Annas Geburtsort Ellenserdamm gehört. Ein Mandat, das Traeger schon bei den vorangegangenen Wahlen 1890 gewonnen hat und das er 1898 abermals verteidigt – ein Beleg für die vergleichsweise liberale Gesinnung im nördlichen Teil des damaligen Großherzogtums Oldenburg.

Der Hof mit angeschlossener Gaststätte, auf dem Anna ihre Kinder- und Jugendzeit verbringt, liegt direkt an der Grenze des Großherzogtums zur früheren Herrschaft Jever und diente auf Oldenburger Seite einst als Zollhaus. Die Doppelfunktion aus Landwirtschaft und Gastgewerbe fordert allen Familienangehörigen ein hohes Pensum an Arbeit ab, in das Anna als jüngste Tochter aber zunächst sicher nicht ganz so eingebunden ist wie ihre älteren Geschwister. Ein Unterschied, der sich freilich nach der Jahrhundertwende von Jahr zu Jahr stärker verwischen dürfte.

Nach Abschluss der örtlichen Volksschule arbeitet Anna zunächst sehr wahrscheinlich noch eine Zeitlang im elterlichen Betrieb mit, ehe sie im Frühjahr 1910 in Vechta im Haushalt des Oberkirchenrats Heinrich Iben in Stellung geht. Iben ist im stark katholisch geprägten Oldenburger Münsterland für die Mitglieder der evangelischen Kirchengemeinde zuständig, zu ihm und seiner Ehefrau Regine entwickelt Anna in der Folge ein sehr herzliches Verhältnis. Gleichwohl kehrt sie im Mai 1911 nach Ellenserdamm zurück.

Wohnt zu jenem Zeitpunkt im elterlichen Gasthof bereits Fritz Hartmann aus Cornau, der irgendwann um das Jahr 1911 herum eine Lehrerstelle im Nachbardorf Blauhand zugewiesen bekommt? So ganz genau lässt sich das mehr als 110 Jahre später nicht mehr sagen, vielleicht lernen die beiden jungen Leute sich auch erst 1912 oder Anfang 1913 kennen. Über den Ausgangsort ihrer sich danach anbahnenden Romanze bestehen jedoch keine Zweifel. Für Anna der Beginn einer eher unbeschwerten Lebensphase, die allerdings im Juni 1913 durch den Tod von Mutter Anna Elise getrübt wird. Zwölf Monate später, am 16. Juni 1914, heiratet Annas Bruder Friedrich Frieda Hartmann aus Cornau, die Schwester von Fritz Hartmann – eine Beziehung, die ohne die Begegnung von Anna und Fritz wohl kaum zustande gekommen wäre.

Während in Ellenserdamm das Brautpaar mit seinen Gästen feiert, bahnt sich rund 1.000 Kilometer weiter südöstlich Unheil an: In Sarajevo planen serbische Nationalisten die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand, der für den 28. Juni seinen Besuch in der 1908 von Österreich-Ungarn annektierten bosnischen Hauptstadt angekündigt hat. Das Attentat gelingt. Weil die folgende Krisen-Diplomatie zwischen den wahlweise mit Serbien, Österreich-Ungarn oder einem von deren politischen Partnern verbündeten Staaten zu keinem Ergebnis führen, machen Ende Juli 1914 im Abstand von wenigen Stunden Russland, Deutschland und auch Frankreich mobil. Der Erste Weltkrieg beginnt und fordert sowohl in Annas als auch in Fritz‘ Familie Opfer: Im Oktober 1915 fällt Fritz‘ Bruder Johann Heinrich, im April 1916 Annas Bruder Friedrich.

Ob Annas künftiger Ehemann ebenfalls aktiv am Krieg teilnimmt, liegt heute im Dunkeln. Viele junge Lehrer im wehrfähigen Alter melden sich freiwillig oder werden nach und nach eingezogen, Schulen daraufhin zusammengelegt. Genauso gut möglich ist es deshalb, dass Fritz Hartmann als Leiter einer jener offen gebliebenen Schulen als unabkömmlich gilt und weiter unterrichtet. Wie auch immer: Ein halbes Jahr nach Kriegsende – Kaiser Wilhelm sitzt inzwischen im Exil auf Schloss Doorn in den Niederlanden, in der neu ausgerufenen Weimarer Republik hat die erstmals von Männern und Frauen gemeinsam gewählte Nationalversammlung ihre Arbeit aufgenommen – geben Anna und Fritz sich am 8. Mai 1919 in der St.-Martins-Kirche in Zetel das Jawort.

Zu diesem Zeitpunkt hat Fritz bereits die Versetzung an einen neuen Standort in der Tasche: In Altmoorhausen, rund 50 Kilometer südöstlich von Ellenserdamm, übernimmt er die Leitung der nach dreijähriger Pause wiedereröffneten örtlichen Volksschule. Für Anna heißt es daraufhin Abschied nehmen von Vater Elimar, den beiden Schwestern und Schwägerin Frieda – wobei sie sich angesichts der relativ guten Bahnverbindung zwischen beiden Orten um künftige Wiedersehen wenig sorgen muss: Ellenserdamm liegt direkt an der Strecke Oldenburg–Wilhelmshaven, das Altmoorhauser Schulhaus wiederum ist vom nächstgelegenen Bahnhof in Wüsting lediglich fünf Kilometer entfernt.

Deutlich weniger komfortabel mögen Anna da schon die Verhältnisse in ihrem neuen Zuhause erscheinen. Das Gebäude ist zwar erst 1892 errichtet, besitzt aber diverse, schon von Fritz‘ Vorgängern Emil Wunderlich und Johann Folkers beklagte Baumängel. Von den insgesamt sieben Räumen – darunter das rund 70 Quadratmeter große Klassenzimmer – lassen sich im Winter nur drei beheizen, und auch die Qualität des auf dem Grundstück über einen Brunnen verfügbaren Trinkwassers ist bestenfalls mäßig. Großartig über die Situation zu lamentieren hätte jedoch in den ersten, von politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen gekennzeichneten Nachkriegsjahren wenig Sinn. Anna dürfte deshalb nach dem Einzug ihre ganze Energie darauf verwenden, das Schulhaus so wohnlich wie irgend möglich zu gestalten. Zumal bald klar ist, dass es dort zu Beginn des neuen Jahrzehnts Nachwuchs geben wird: Am 3. März 1920 bringt Anna unter tatkräftiger Mithilfe einer Wüstinger Hebamme Sohn Heinz zur Welt.

Nur wenige Wochen vor Heinz‘ Geburt beginnt das Statistische Reichsamt in Berlin mit der umfangreichen Erhebung von Preisdaten und errechnet daraus fortan einmal monatlich einen Index für die Lebenshaltungskosten. Zum Warenkorb gehören unter anderem Nahrungsmittel wie Brot, Gemüse, Obst, Milch und Fleisch sowie Heizmaterial und die Durchschnittsmiete der jeweiligen Region. Auch ohne diesen Index direkt zu kennen oder zu verfolgen, dürfte seine Entwicklung neben Millionen von anderen Betroffenen auch Anna in Angst und Schrecken versetzen. Sind die Preise im Sommer 1920 noch leicht rückläufig, so ziehen sie nach der Geburt des zweiten Sohnes Helmut im Juni 1921 sprunghaft an.

Verglichen mit dem Vorjahresmonat liegt die Inflationsrate im Juli 1921 bei 17 Prozent, im Dezember sind es bereits 66 Prozent und im Dezember 1923 – unmittelbar vor Geburt des dritten Sohnes Harro – unfassbare 182 Milliarden Prozent. Ein Horror-Erlebnis, das Anna mutmaßlich ein Leben lang prägt: Ihre Enkel berichten heute noch von Annas ausgeprägter Sparsamkeit und davon, dass bei ihr noch in den 1960er Jahren jedes im Keller gelagerte Nahrungsmittel bis zum letzten Gramm verbraucht wurde. Eben ganz so, wie es 1923 nötig war, wollte man halbwegs unbeschadet durch die aus heutiger Sicht völlig surreal anmutenden Zeiten kommen.

Glücklicherweise bessert sich die wirtschaftliche Lage Mitte der 1920er Jahre etwas, und auch politisch driftet die bereits mehrfach vor dem Abgrund stehende Weimarer Republik in ruhigere Fahrwasser. Mit dem Tod von Annas Vater Elimar gibt es dafür im Dezember 1926 innerhalb der Familie einen weiteren, vermutlich nicht so früh erwarteten Trauerfall. Der Kontakt zu den Schwestern und Schwägerin Frieda, die mit ihrem zweiten Ehemann Karl Müller den Gasthof Rust weiterführt, bleibt gleichwohl bestehen und führt zu nach wie vor regelmäßigen gegenseitigen Besuchen.

In Altmoorhausen wiederum haben sich Anna und Fritz inzwischen etabliert und pflegen gute nachbarschaftliche Beziehungen zu den Familien von Heinrich Budde, Otto Breas, Hermann Hinrich Segelken, Georg Mitwollen und Hermann Grummer. Singt Anna auch im von Ehemann Fritz und Heinrich Budde geführten Gemischten Chor des Dorfes? Zu vermuten ist es – so wie sie sehr wahrscheinlich auch als treibende Kraft hinter der Idee steht, einmal im Monat mit dem Huder Pastor Claas Hinrichs einen Gottesdienst im Schulhaus abzuhalten. Den Erzählungen ihres Sohnes Heinz zufolge hat Anna zur Kirche stets ein gutes Verhältnis, unter anderem geprägt durch die positiven Erfahrungen im Haushalt des Oldenburger Oberkirchenrats Heinrich Iben.

Viel zu schnell folgen allerdings auf die halbwegs normalen Tage auch wieder turbulente Zeiten. Die 1931 von den USA aus mit voller Wucht auf Deutschland übergreifende Weltwirtschaftskrise bringt nicht nur die Aktivitäten des Gemischten Chors Altmoorhausen zum Erliegen, sondern macht auch der von vielen Deutschen nach wie vor ungeliebten Demokratie den Garaus. Abzulesen ist die zunehmende Radikalisierung weiter Bevölkerungskreise an den Wahlergebnissen der republikfeindlichen NSDAP: 2,6 Prozent bei den Reichstagswahlen vom Mai 1928, 18,3 Prozent im September 1930 und 37,4 Prozent im Juli 1932. Zwar folgt bei den Neuwahlen vom November 1932 mit 33,1 Prozent ein unerwarteter Rückschlag. Als Reichspräsident Paul von Hindenburg den NSDAP-Führer Adolf Hitler im Januar 1933 dennoch zum Reichskanzler ernennt, gibt es jedoch kein Zurück mehr – das kurz darauf vom Reichstag gegen die Stimmen der SPD gebilligte Ermächtigungsgesetz ebnet den verhängnisvollen Weg in den NS-Staat.

Die neue Zeit bringt die Zwangsmitgliedschaft der heranwachsenden Söhne in Jungvolk und Hitlerjugend mit sich. Dass dabei auch eine gehörige, von den Machthabern rigoros ausgenutzte Portion jugendlicher Begeisterung für alles Militärische mitschwingt, lässt sich kaum verhindern, dürfte bei Anna angesichts ihrer Erinnerungen an die finsteren Jahre des Ersten Weltkriegs allerdings kaum auf viel Gegenliebe stoßen. Sonderlich begeistert wird sie deshalb auch nicht sein, als sich ihr Jüngster, Harro, zu Weihnachten 1936 unbedingt ein Kleinkalibergewehr, einen sogenannten Flobert, wünscht. Hätte sie energischer widersprechen müssen? Diese zermürbende Frage wird ihr wohl fortan einige tausend Male durch den Kopf gehen, als Harro nur etwas mehr als eine Woche später etwas zu leichtfertig mit der Waffe hantiert und dabei eine tödliche Verletzung erleidet. Zweifellos markiert dieser 3. Januar 1937 einen der schwärzesten Tage in Annas Leben.

Ein Kind zu verlieren ist immer grausam – zwei weitere Kinder in ständiger Lebensgefahr zu wissen und nur hoffen und beten zu können, dass sie gesund nach Hause zurückkehren, ebenso. In diesem Punkt geht es Anna in den Jahren des von Hitler entfesselten Zweiten Weltkriegs nicht viel anders als Millionen anderen Müttern ihrer Generation. Zwar bleibt das gefürchtete Telegramm, Heinz oder Helmut habe an irgendeiner der ständig wechselnden Fronten „für Führer, Volk und Vaterland“ sein junges Leben lassen müssen, bis zur Kapitulation der Wehrmacht im Frühjahr 1945 aus. Vorbei sind die Sorgen damit aber noch nicht, denn das Schicksal von Heinz liegt lange im Ungewissen: Erst Anfang 1950 wird Annas ältester Sohn aus sowjetischer Lagerhaft entlassen.

Den Augenblick des Wiedersehens auf dem Bahnhof in Hude am 18. Januar 1950 schildert Heinz Hartmann in seinen später zu Papier gebrachten Erinnerungen wie folgt: „Langsam kommt der Zug auf dem schwach beleuchteten Bahnsteig zum Halten. Nur zögernd öffne ich die Wagentür. Genau vor ihr steht meine wartende Mutter. Nach langen, langen Jahren der Sorge und Ungewissheit liegen sich Mutter und Sohn in den Armen. Vater, der mich am anderen Ende des Bahnsteigs erwartet hat, ist schnell bei uns und drei Hartmanns sind wieder eins. Mein Jugendfreund Anton Budde, der einzige Besitzer eines Autos in Altmoorhausen, steht gerührt und wartend im Hintergrund.“

Zu diesem Zeitpunkt ist Anna durch Helmuts im Mai 1946 geborenen Sohn Harro bereits Großmutter. Mit Harros Schwester Ingrid (April 1951) und Heinz‘ Sohn Enno (Januar 1955) kommen in den folgenden Jahren noch zwei Enkelkinder hinzu. Kurz vor Ennos Geburt verlassen Anna und Fritz nach mehr als 35 Jahren Altmoorhausen und beziehen ein als Altersruhesitz gekauftes Haus am Bremer Weg in Vielstedt. Dort erreicht sie im August 1959 die Nachricht, dass Helmut, der mit seiner Familie in Upjever einen landwirtschaftlichen Hof betreibt, nach schwerer Krankheit im Alter von nur 38 Jahren verstorben ist.

Fast zeitgleich kommt vom einzig verbliebenen Sohn Heinz – inzwischen Mitarbeiter im Kfz-Unternehmen des ehemaligen Kriegskameraden Herbert Evels in Lehrte – das Angebot, zu ihm und seiner Familie zu ziehen. Anna und Fritz vermieten ihr Haus in Vielstedt und folgen dem Ruf. Nach dem plötzlichen, durch einen Herzinfarkt bedingten Tod von Fritz im August 1964 lebt Anna weiter mit Heinz, Schwiegertochter Edith und Enkelsohn Enno in Lehrte. In dieser Zeit wird sie durch die Geburt von Harros Kindern Jan-Hendrik (Mai 1972) und Annika (Januar 1976) noch zweimal Urgroßmutter, stirbt aber nur sieben Monate nach Annikas Geburt an Altersschwäche. Beerdigt ist Anna am 3. September 1976 auf dem Neuen Friedhof der Matthäuskirche in Lehrte.