Persönliche Erinnerungen an Friedrich Meyer zu Berstenhorst

… von seinem Enkel Dieter Vogt

Die folgenden, an dieser Stelle leicht gekürzten Erinnerungen wurden erstmals 1991 im Buch „Von Altmoorhausen bis Ofen – Geschichten aus Oldenburg und umzu“ (Verlag Klaus Groh, Edewecht) veröffentlicht

Unser Opa war ein rechtes Original, ein Unikum, wie es im Buche steht. 1878 geboren, umspannte sein Leben – als er 1971 starb – fast ein Jahrhundert. Er hatte auch fest vor, 100 Jahre alt zu werden, zumal er sich bis zu seinem Ende bei guter Gesundheit fühlte. Ich habe ihn eigentlich nie krank gesehen, außer bei den Blessuren, die er sich durch Stürze oder andere Unvorsichtigkeiten zuzog.

Er war ein richtiger Bauer, sowohl von seiner Statur als auch von seiner Denk- und Handlungsweise her. Da Opa aus Westfalen kam, aber die meiste Zeit seines Lebens im Oldenburgischen zugebracht hatte (Huntlosen, Altmoorhausen, Ofen), sprach er eine Mischung aus westfälischem und oldenburgischem Platt. Hochdeutsch verstand er sehr wohl, gebrauchte es selbst aber so gut wie nie.

Er maß für seine Generation erstaunliche 1,80 Meter und hatte Hände wie zwei Bratpfannen, mit großen ungelenken Fingern, die weder fürs Schreiben noch für sonstige feinmotorischen Tätigkeiten geeignet waren. Beim Skatspielen, das er über alles schätzte, feuchtete er seine groben Finger mit der Zunge an, um die richtige Karte aus dem Gewirr hervorzuholen. Dabei schaute er immer noch einmal genau hin und vergewisserte sich, dass er richtig gegriffen hatte, denn er war auf einem Auge blind – eine Kriegsverletzung aus dem Ersten Weltkrieg – und konnte nicht mehr plastisch sehen. Eine Brille trug er nur beim Zeitunglesen. Er hatte im Laufe der Zeit eine Glatze bekommen, auf der nur am Rande über den Ohren noch ein grauer Haarkranz wucherte. Dafür aber besaß er nach alter monarchischer Gesinnung einen Schnauzbart à la Kaiser Wilhelm II..

Opa trug nur dunkle Kleidung. Meist eine für seine schlanke Figur viel zu weite derbe, schwarze Hose, die von Hosenträgern gehalten wurde, Holzschuhe mit Stroheinlage und eine dunkle Weste über einem grauen oder weißen Leinenhemd. Unverkennbares Markenzeichen aber war sein „Förhemd“, wie er es nannte, ein „Vorhemd“, eine Art Beffchen, das die Aufgabe hatte, den Hals zu wärmen und die beim Essen herabfallenden Speisereste (er hatte nur noch wenige Zähne, wollte aber kein Gebiss) aufzufangen. Stets trug er, sommers wie winters, wenn er draußen arbeitete, einen Hut. Zu dieser Ausstattung gehörte bei ihm als unverwechselbares Accessoire seine über einen Meter lange Pfeife mit einem großen Porzellan-Pfeifenkopf, den er mit dem billigsten Tabak füllte. Wenn er die Pfeife anstecken wollte, musste er sich richtig strecken; dabei zog er den Kopf so weit wie möglich aus dem Hemd, plierte mit dem gesunden Auge auf den entfernten Pfeifenkopf und brachte das schon fast abgebrannte Streichholz langsam in Zündposition. Manchmal dachte ich, er müsste sich an der lodernden Flamme die Finger verbrannt haben. Aber gelassen legte er das Streichholz weg, stopfte mit dem hornhautbezogenen Mittelfinger die Pfeife fest und paffte vor sich hin, so dass in Kürze das ganze Wohnzimmer unter Qualm stand.

Nur sonntags genehmigte er sich statt der Pfeife eine gute Zigarre, wenn er zu einem seiner vielen weiten Spaziergänge aufbrach. Sonntags musste er auch rasiert werden. Er hielt eigentlich nicht viel von moderner Technik, aber nachdem er sich mehrmals mit dem Nassrasierer geschnitten hatte, weil er – wie schon gesagt – nicht mehr sehr gut sehen konnte, ließ er sich elektrisch rasieren. Danach zog er seinen Sonntagsstaat an – weißes Hemd und statt des „Förhemds“ eine dunkle Krawatte – und dann ging’s los. Wohin?

Ja, sein Leben drehte sich um drei Bereiche: Kirche, Kneipe, Arbeit. Er war ein eifriger Kirchgänger, der an keinem Sonntag einen Gottesdienst auslassen wollte. Als sein Gehör mit über 90 Jahren nachließ und er den Pastor nicht mehr verstehen konnte, forderte er, der Herr Pfarrer sollte doch gefälligst lauter reden, er könne ihn nicht verstehen. Da der Pastor aber nicht allein Opas wegen die ganze Kirche zusammenbrüllen wollte – was wohl auch christlichem Empfinden widersprochen hätte – und auch seine Stimme nicht zu ruinieren gedachte, kam er auf eine gute Idee; das heißt, es war im Prinzip keine schlechte Idee, aber sie hatte ungeahnte Folgen!

Ich war zu der Zeit circa 13 Jahre alt und musste, um konfirmiert zu werden, auch regelmäßig zur Kirche gehen. Da bot es sich an, dass Opa und ich gemeinsam gingen. So weit, so gut. Aber in der Kirche angekommen, stellte sich die Frage: Wo setzen wir uns hin? Ich hätte mich gerne, wie in dem Alter üblich, etwas unauffällig in die Mitte oder nach hinten gesetzt; aber Opa steuerte mit mir zielstrebig die erste Bank vor der Kanzel an. Da war es lauter, da konnte er besser verstehen. Ich musste also mit.

Eines Sonntags nun, wir hatten gerade unsere Logenplätze eingenommen, trat der Pfarrer zu uns und bedeutete mir, ich sollte Opa behilflich sein; er zeigte dabei auf die Ohren. Aha, das war es also! Man hatte eigens für Opa ein paar Kopfhörer in der ersten Reihe installieren lassen, verbunden mit einem Mikrofon auf der Kanzel. Er setzte sich stolz in Positur und ließ sich von mir die Kopfhörer aufsetzen. Bei diesem Akt spürte ich förmlich die Blicke aller Anwesenden in meinem Nacken. Es war mir peinlich, so im Mittelpunkt zu stehen.

Opa aber lehnte sich genüsslich zurück und lauschte mit tiefer Anteilnahme der Predigt, bis, ja bis der Pfarrer sagte: „Und nun erheben wir uns alle zum Gebet.“ Opa stand auch auf. Rums, Klabaster, Polter! Die Kopfhörer waren an einer zu kurzen Schnur montiert worden (man hatte nicht ans Beten gedacht!) und waren ihm beim Aufstehen vom Kopf gefallen. Der Pfarrer hörte auf zu beten, ich bückte mich verzweifelt, hob die Dinger auf, wollte sie Opa aufsetzen; ein hilfloser Blick zum Pfarrer, „die Schnur ist doch zu kurz!“ – und hielt sie in der Hand. „Ihr zwei dürft Euch setzen“, erlaubte er uns.

Ich setzte Opa die Hörer wieder auf und war mit den Nerven am Boden. „De sind kött; eck hör nix mehr!“ bedeutete der mir ziemlich laut. „Nein, Opa“, sagte ich leise, „der Pastor spricht jetzt nicht durchs Mikrofon, da kannst Du nichts hören!“ – „Wat? Eck hör nix!“ wiederholte er. Ich schwieg, mir reichte es. Gott sei Dank war die Zeit bald um. Der Pfarrer kam nach dem Gottesdienst zu uns und versicherte, die Schnüre würden verlängert. Das geschah dann auch, aber ich setzte mich beim nächsten Kirchgang doch lieber nach hinten. Opa fand das gar nicht nett von mir. „Schamst Die woll, wat?“ Ich konnte es ihm einfach nicht erklären – mit 13 Jahren und gerade 1,60 Meter groß.

Zu den absoluten Höhepunkten in Opas Leben gehörten seine Geburtstagsfeiern. Opa kam sich von Jahr zu Jahr, besonders als er die 80 erreicht hatte und von der Gemeinde von Amts wegen geehrt wurde, bedeutender vor. Er hatte am 13. Juni Geburtstag und fast immer Glück mit dem Wetter, so dass ein Großteil der Feier im Garten stattfinden konnte. Schon Wochen vor dem eigentlichen Termin stellte sich für Mutter und Tante als Ausrichter der Feier in jedem Jahr wieder die bange Frage „Wer kommt nun wohl, wer kommt nicht, wen hat er eingeladen?“ Opa neigte nämlich dazu, besonders wenn er einen getrunken hatte, alle Leute, die er gerade traf, zu seinem Geburtstag einzuladen. Meistens sagten alle zu, aber kamen dann doch nicht. So beschränkte sich die Feiergesellschaft – nachdem die Offiziellen des Morgens ihren Besuch abgestattet hatten – am Abend aus seiner Sippe (Kinder und Eheleute, Enkel und Freunde) und den Nachbarn. Das ergab aber immerhin meist noch eine Gruppe von wenigstens 30 Leuten, die essen und trinken wollten.

Die Feierei war für Mutter und Tante mit viel Arbeit verbunden. Aber es lohnte sich. Diese Familienfeiern, zu denen die fünf Kinder mit Anhang und Enkeln anreisten, waren für alle ein Fest der Freude und Ausgelassenheit. Dabei fühlte Opa sich nicht nur als Mittelpunkt – das tat er stets – er war es auch. Er erzählte dann in großer Runde immer wieder die gleichen Geschichten aus seiner Militärzeit von 1898 bis 1900. Diese Zeit muss in seiner Jugend, ja in seinem ganzen Leben mit die aufregendste und schönste für ihn gewesen sein. Wenn jemand sagte „Mensch, Opa, die Geschichte hast Du doch schon mal erzählt“, meinte er etwas beleidigt, dann brauche er sie ja nicht noch einmal zu erzählen. Aber spätestens nach einer halben Stunde hatte er das wieder vergessen und legte doch mit seiner Geschichte los. Nun unterbrach ihn keiner mehr. Auf diese Weise kennen alle Kinder und Enkel bestimmte Geschichten noch heute. Er verfolgte eben das pädagogisch sinnvolle Prinzip der ständigen Wiederholung.

Das Interessanteste an Opas Geburtstag aber waren die Geschenke. Von uns – seiner engeren Familie – bekam er meist Kleidung, Zigarren, Tabak oder ein paar Schuhe. Nützliches also. Darüber freute er sich auch. Aber so richtig spannend wurde es, wenn die vielen Nachbarn, Freunde und fernere Anverwandte anfingen, ihre Geschenke auszupacken. Was dabei zum Vorschein kam, war noch nicht einmal so spannend: Es waren Schnapsflaschen unterschiedlicher Marken, Größe und Alkoholkonzentration; wirklich spannend wurde es, wenn Opa die Anzahl der Flaschen feststellte, die sorgsam aufgereiht auf seiner Kommode standen, meist in Doppelreihe, weil die Kommode zu kurz war. Hatte er seinen Vorjahres-Rekord (waren es 25 oder gar 27 Flaschen gewesen?) überboten? Er sah in der Anzahl der Flaschen einen Gradmesser seiner allgemeinen Beliebtheit. Ich kann mich erinnern, dass er von seinem 80. Lebensjahr an seinen Rekord von Mal zu Mal steigerte.

Obwohl während der Feier natürlich ein Teil dieser Geschenke sogleich in Stimmung umgesetzt wurde, blieb jedes Mal ein erheblicher Bestand zurück. Wohin damit? Zwei oder drei Flaschen (meist Cognac) überließ Opa großzügig uns, damit bei anderen Besuchen etwas zum Anbieten im Hause wäre, wie er meinte. Er selbst bevorzugte mehr oder minder starken Korn oder Klaren. Und diese Flaschen nun hütete er wie seinen Augapfel. Er versteckte einige in seinem Kleiderschrank, andere hinter dem Hühnerstall, wobei wir uns dann wunderten, warum Opa plötzlich dauernd hinter dem Stall zu arbeiten hatte. Er befürchtete wohl, dass jemand von uns ihm seinen Vorrat verringern könnte.

Wenn nun nach einigen Wochen oder Monaten Opas Geburtstagsbestand zur Neige ging, dann erinnerte er sich an die zwei oder drei Flaschen, die er uns überlassen hatte. Da er nun natürlich nicht um die Rückgabe der einmal großzügig gemachten Geschenke bitten wollte, suchte er heimlich nach den Flaschen. Zuerst fand er sie schnell, da sie nicht versteckt waren. Aber wie nun an das Zeug kommen, ohne dass es auffiel? Er kam auf eine Lösung, die uns erst klar wurde, als tatsächlich aus solch einer Flasche Gästen ein Cognac eingeschenkt wurde.

Die Flasche war zwar verschlossen, aber nicht mehr versiegelt. Das fiel Mutter zwar auf, aber sie dachte sich nichts dabei. Die braune Flüssigkeit wurde also ausgeschenkt, und man hob die Gläser auf das Wohl von? – ich weiß es nicht – jedenfalls verzogen alle Beteiligten peinlich berührt den Mund oder gar das ganze Gesicht: Der Cognac war nur noch ganz entfernt als solcher auszumachen. Der Alkoholgehalt war von 40 Prozent auf höchstes 10 Prozent reduziert worden – durch die Zugabe von braunem Wasser. „Oh, Opa“, rief meine Mutter, „jetzt müssen wir ja auch unseren Schnaps verstecken, sonst gibt’s unerfreuliche Überraschungen.“

Nun war also der Punkt erreicht, wo Opa seinen Schnaps vor uns und wir unseren vor Opa versteckten; allerdings mit einem Unterschied: Opa wusste immer, wo und wie er seinen Vorrat auf dem gesamten Gelände untergebracht hatte; Mutter wusste nicht immer genau, wo sie mit ihrer eisernen Reserve geblieben war. Einmal fehlte ihr eine Flasche, das heißt, sie wusste nicht genau, wo sie damit geblieben war. Als alles Suchen nichts nützte, hegte sie den Verdacht, Opa habe die Flasche gesucht und gefunden. Er wies das natürlich entrüstet zurück, so etwas würde er doch nie tun, niemals, nein. Jedenfalls war die Flasche weg. Opa hatte sie wirklich nicht genommen, wie sich später herausstellte, aber zunächst traute ihm keiner von uns so recht.

Das Waschen war früher eine recht mühselige Arbeit. Wasser musste gekocht werden, auf dem Waschbrett die Wäsche bearbeitet werden und schließlich wurde durch Auswringen der Wäsche soweit das Wasser entzogen, dass sie zum Trocken in die Sonne oder auf den Trockenboden gehängt werden konnte. Als welch riesiger Fortschritt und große Erleichterung empfanden es da meine Mutter und Tante, als sie sich eine neue Waschmaschine leisten konnten – eine elektrische – mit allen Schikanen. Man brauchte nur noch Waschpulver in die Trommel zu schütten und das Ding anzustellen. Sie wusch alleine! Zwar noch nicht mit elektronischer Steuerung wie heute, aber es war eine ungeheure Erleichterung. Und das Auswringen entfiel ebenfalls, denn neben der eigentlichen Waschmaschine, in dem Leib des Gerätes integriert, befand sich die Schleuder. Die Wäsche musste also nach dem Waschen nur aus der Waschmaschine direkt nebenan in die Schleuder gestopft werden, die dann mit langsamem Anlauf und schließlich hohen Touren das Wasser aus der Wäsche drückte. Ein tolles Gerät, der Stolz der Familie!

Eines Tages, es war kurz nachdem man Opa des Flaschendiebstahls verdächtigt hatte – bekamen wir Besuch von Freunden, die unsere neueste Errungenschaft betrachten wollten, da sie auch an die Anschaffung solch eines Gerätes dachten. Stolz und mit einer gewissen Erhabenheit wurde das gute Stück in der Waschküche gezeigt. Da stand sie nun, die Waschmaschine mit Schleuder. Sie wurde zunächst aus respektvollem Abstand betrachtet. Während Mutter noch bei der Erklärung der Vorteile dieses Wunderwerkes war, hatte der kleine Steppke von Sohn unserer Gäste – er war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt – an dem Gerät einen leuchtend roten Knopf entdeckt, der ihn wohl fasziniert haben muss. Jedenfalls war er schneller als wir greifen konnten bei der Maschine und drückte eben diesen Knopf. Im nächsten Augenblick begann in der Schleuder ein fürchterliches Gerumpel, dann ein Splittern und feines Sausen. Wir sprangen alle erschrocken hinzu, liefen den kleinen Übeltäter beinahe um und versuchten alle gleichzeitig, den Aus-Knopf zu drücken, was natürlich durch den Masseneinsatz von Händen und Fingern nicht so schnell von Erfolg gekrönt war. Schließlich lief die Schleuder aus, stand. Besorgt und erschreckt öffnete ich die Klappe und blickte hinein. Scherben, braune Scherben, offensichtlich von der Cognac-Flasche, denn das Etikett war noch zu lesen. Nun fiel auch Mutter schlagartig wieder das Versteck für die Cognac-Flasche ein, von der sie geglaubt hatte, Opa habe sie gemopst. Er war also rehabilitiert! Aber ich glaube nicht, dass Mutter ihm gesagt hat, was passiert war.

Opa war in gewisser Weise mit Bauernschläue ausgestattet, aber an sich gutmütig, gutgläubig und naiv. Zwar hatte er einige Grundüberzeugungen, zum Beispiel, dass am Niedergang des Kaiserreichs ebenso wie an seinem eigenen finanziellen Unglück, das damit verbunden war, einzig und allein die SPD schuld sei, aber diese Grundüberzeugungen waren für sein Leben im Alter im Allgemeinen nicht von Bedeutung. Er richtete seine Verhaltensweisen danach aus, wie die Menschen ihm entgegenkamen; und wenn jemand ihm gar einen Schnaps anbot, dann war für Opa bereits ein Grundvertrauen hergestellt. Mit dieser Lebenseinstellung ist er 93 glückliche Jahre alt geworden, wer wollte also darüber richten?

Als er wegen eines Armbruchs im Krankenhaus war und ihm Blut zur Untersuchung abgenommen worden war, stellte ihm der Oberarzt im Beisein von Kollegen die Frage, worauf Opa sein hohes Alter und seine Rüstigkeit zurückführe. In solchen Situationen sprach Opa immer hochdeutsch: „Täglich arbeiten, dabei gut essen, ein Stück Speck und eine gute Zigarre und immer zwischendurch einen Klaren.“ Die Ärzte standen kopfschüttelnd da, und der Chef meinte: „Da können Sie sehen, was wir mit unserer ganzen Theorie wert sind, wenn jemand bei solcher Lebensweise so alt wird.“ Die Blutwerte müssen wohl nach seinem Verständnis fatal gewesen sein. Aber Opa hatte eben nie etwas von hohem Blutdruck, zu viel Cholesterin, Gamma-GT-Werten und Pankreatitis oder Ähnlichem gehört. Zum Arzt ging er ohnehin nie.

Dafür arbeitete er in der Woche viel, einen Acht-Stunden-Tag kannte er nicht. Selbst wenn eigentlich nichts zu tun war, fand er immer eine Beschäftigung. Auf unserem kleinen Hof stand eine Gruppe von Kastanienbäumen, die allmählich durch ihr dichtes Laub die Sonne ganz aus dem Garten fernhielt. Opa meinte, einer dieser Bäume müsse entfernt werden. Im Prinzip sahen wir das alle ein, aber wer sollte das machen? Woher das Gerät nehmen, um den Baum so abzusichern, dass er nicht aufs Haus stürzte, wenn er abgesägt wurde? Opa wusste es: „Dat kann ik woll alleen!“ Wir gaben uns Mühe, ihn zu überzeugen, dass er das nicht allein könne. Aber in solchen Dingen war er stur, er setzte sich durch. Der Baum würde von selbst zur richtigen Seite kippen, wenn wir zu zweit mit einer Zugsäge arbeiten würden. Und tatsächlich, mit Ruhe und Ausdauer sägten wir, bis der Baum sich zwischen zwei Kastanien hindurch zur richtigen Seite neigte und schließlich krachend zu Boden stürzte. Opa war stolz. „Nu bruukst mi nich mehr hölpen, dat anner kann ick alleen.“ Und er machte sich Tag für Tag an die Arbeit, bis er den mächtigen Baum in wenigen Wochen in Scheite zerlegt hatte. Mit diesem ofengerecht gespalteten Holz heizte sein Sohn in Oldenburg einen ganzen Winter sein Haus.

Die Arbeit war für ihn wohl auch deshalb so gesund, weil er stets über den Rhythmus seines Tuns selbst entscheiden konnte und so gut wie nie fremdbestimmte Arbeit leisten musste. Wenn er erschöpft war oder keine Lust mehr hatte, hörte er auf. So machte er jeden Tag nach dem Mittagessen eine kleine Pause. Er setzte sich dazu in seinen großen Ohrensessel vor den Ofen im Wohnzimmer und las Zeitung, – nebenbei bemerkt – immer noch ohne Brille. Er rauchte dabei seine Pfeife, und regelmäßig nach zehn Minuten merkte man an dem langsamen Knistern der Zeitung, dass ihm die Hände herunterfielen mitsamt der Zeitung und er ein Nickerchen machte. Dabei fiel ihm der Kopf auf die Brust und die Pfeife aus dem Mund. Je nach Sitzposition sank ihm gelegentlich auch der Kopf nach hinten an die Lehne. Dann hing ihm die Pfeife am letzten Zahn noch im Mund. Diese Pausen dauerten nie länger als 15 oder 20 Minuten. Dann erhob er sich, klimperte zweimal mit den Augen und nahm seine Arbeit wieder auf.

Eines Morgens nach einem seiner Friseurbesuche hatte er sich vorgenommen, mit der Sense das Gras in der letzten Ecke unseres kleinen Anwesens zu mähen. Man konnte vom Wohnzimmerfenster aus diesen Teil des Feldes zwar einsehen, aber nur Dinge erkennen, die über das dazwischenliegende Kornfeld hinausragten. Es war ein warmer Sommertag, und Opa muss bei der Wärme ganz schön mit seinem Kater zu kämpfen gehabt haben. Aber er ließ sich nichts anmerken und machte sich – die Sense auf der Schulter, den Hut auf dem Kopf – auf den Weg zum Mähen. Nun muss man wissen, dass das Mähen mit der Sense, selbst wenn man es wie aus dem FF beherrscht, eine recht anstrengende Sache ist; wir können uns das heute im Zeitalter modernster Technik gar nicht mehr so recht vorstellen. Jedenfalls zog Opa ab, und wir sahen ihn bald in der Ferne in der für ihn typischen Haltung beim Mähen. Nach einer Weile aber sagte Mutter, als sie aus dem Fenster sah: „Du, ich kann Opa da hinten gar nicht mehr sehen, ist er schon wieder hier?“

Er war nicht im Hause und nicht im Stall, auf der Wiese war er aber anscheinend auch nicht! Da bekamen wir es doch mit der Angst zu tun. Immerhin war er bereits 85 Jahre alt. „Geh‘ mal hin und guck, was da los ist“, forderte mich meine Mutter auf. Ich lief los, beunruhigt, dass Opa etwas zugestoßen sein könnte. Als ich nach wenigen Minuten die Wiese erreichte, sah ich ihn in der prallen Sonne auf dem Rücken liegen. Ich befürchtete das Schlimmste und trat an ihn heran, bückte mich und nahm ihm den Hut vom Gesicht. Er war schweißüberströmt, schlug aber die Augen auf und blickte mich verständnislos an. „Opa, wir konnten Dich nicht mehr sehen und dachten, Dir wäre vielleicht etwas zugestoßen!“ „Nee, is allens good“, antwortete er nur, stand auf, ergriff seine Sense und arbeitete weiter.

Was war geschehen? Er war müde geworden und hatte sich unter einen Baum in den Schatten gelegt, um ein Nickerchen zu machen, den Hut über das Gesicht gezogen. Nun war in der Zwischenzeit die Sonne weitergewandert, und er lag nicht mehr im Schatten, sondern in der glühenden Hitze!

An einem Mittwoch, es war Anfang Dezember 1971, ging Opa zu Fuß in die Stadt, um Weihnachtseinkäufe zu machen. Der sechs Kilometer lange Weg bis zur Stadtmitte schreckte ihn nicht, im Gegenteil, er ging bis zum anderen Ende der Stadt zu seinem Sohn, der dort eine Drogerie betrieb, und holte sich seine drei Schnäpse ab. Dann kaufte er in der Innenstadt ein, was er sich vorgenommen hatte und ging wieder zurück. Er überquerte die Hauptstraße in unserem Dorf an der Fußgängerampel, die – wie er steif und fest behauptete – nur seinetwegen dort errichtet worden war, und erreichte am späten Nachmittag nach etwa 18 Kilometern Fußmarsch sein Zuhause. 18 Kilometer, mit 93 Jahren!

Aber einen etwas angegriffenen Eindruck machte er doch. Er aß wenig an diesem Abend und ging früh ins Bett. Am nächsten Morgen war er zeitig auf – wie immer – und machte sich an die Arbeit. Irgendwie ging ihm aber die Sache nicht von der Hand. Als Mutter ihn zum Mittagessen hereinrief, setzte er sich an den Tisch und meinte: „Ick hepp Kopp Pien!“ „Dann hör doch auf zu arbeiten und setz Dich hin und lies Zeitung“, meinte Tante Ine. Er antwortete nicht und machte sich über den Eintopf her, Erbsensuppe mit einem dicken Stück Speck.

Da Opa von Messer und Gabel im Sinne eines Essbestecks ohnehin nie etwas gehalten hatte und mit seinen klobigen Händen immer etwas ungeschickt aß und kleckerte, fanden wir es zunächst nicht verwunderlich, dass er mit der linken Hand in den Suppenteller geriet, ohne es zu merken. „Mensch, Opa, nimm die Hand aus der Suppe“, rügte Mutter ihn. Aber im gleichen Moment bemerkte sie, dass er etwas nach links eingesunken am Tisch saß. Er reagierte nicht. Erst als Tante Ine ihn schüttelte und nochmals ansprach, erwachte er wie aus einem Traum und schaute fragend um sich. Schlurfend – das linke Bein etwas nachziehend – ging er ins Bett, zog sich ohne Hilfe aus und legte sich hin.

Ein solches Verhalten war neu, und deshalb machten wir uns Gedanken darüber, was wohl mit ihm geschehen sein könnte. Sicherheitshalber wurde ein Arzt bestellt, wogegen Opa anfangs noch heftig protestierte. Dann gab er aber nach, weil er wohl auch spürte, dass irgendetwas in ihm nicht mehr funktionierte, wie er es gern gehabt hätte. Der Arzt untersuchte Opa, nachdem wir von dem merkwürdigen Verhalten berichtet hatten, und beruhigte ihn, es würde bald wieder alles gut werden, nur ein bisschen Ruhe, keinen Schnaps! Zu uns sprach er anders: „Opa hat einen leichten Schlaganfall erlitten, die linke Seite, besonders der Arm, weist Lähmungserscheinungen auf!“ „Was sollen wir mit ihm machen? Muss er ins Krankenhaus?“ „Ich würde ihn hierlassen; immerhin ist er 93 Jahre, das darf man nicht vergessen. Man weiß in dem Alter nie, wie so etwas ausgeht. Und wenn,“ – er zögerte – „dann hat er doch hier alles an Pflege, was er braucht. Im Krankenhaus kann man gegen die Krankheit selbst auch nichts machen. Nein, ich meine, er sollte hierbleiben. Ich komme morgen wieder vorbei.“ Er ging. Wir überlegten, was der Arzt eigentlich gesagt hatte – nur Andeutungen – und doch wuchs die Gewissheit, dass nun der Tag unerbittlich näher rückte, an dem Opas Leben enden würde. Wir stellten uns darauf ein und wollten ihm die letzten Tage so schön wie möglich machen. Aber sein langsames Sterben war furchtbar. Er hatte ein starkes Herz und einen gesunden Kreislauf, so dass er nicht schnell sterben konnte.

Dabei war sein Geist, bedingt durch die Blutung im Gehirn, meistens verwirrt. Er fragte dauernd, wo er eigentlich sei und wer ihm seinen Arm abgesägt habe. Der linke Arm war wohl gefühllos, denn er griff häufig mit der gesunden Hand hinüber und befasste die Finger der linken Hand.

Die Tage gingen vorbei, aber die Nächte nur sehr langsam. Er musste jetzt dauernd unter Aufsicht sein, da er versuchte aufzustehen und zu gehen, was er aber nicht konnte, abgesehen davon, dass er nicht wusste, wo er sich befand. Viele der Besucher, die ihn noch einmal sehen wollten, erkannte er nicht mehr. Aber dafür erlebte ich eine Sache mit ihm, die sonst immer ins Reich der Fantasie gedrängt wird oder zumindest als unglaubwürdig abgetan wird. Einer alten Aussage zufolge können Sterbende den Tod sehen, der sie holen will. Es gibt darüber mehrere Darstellungen, schon aus dem Mittelalter.

Als ich eines Morgens an Opas Bett stand und mich mit ihm unterhalten hatte – er war klar bei Verstand – fragte er plötzlich: „Wel is dat, de dor boben in de Eck steiht, wat will de von mi?“ Er deutete mit dem rechten Arm in die obere Zimmerecke und blickte mit klarem Auge dorthin. „Ich weiß nicht, Opa, ich sehe nichts“, antwortete ich beklommen; es schauderte mich. Dies geschah drei Tage vor seinem Tod.

Endlich kam die Erlösung. Sein starkes Herz hörte zu schlagen auf. Es war der 29. Dezember 1971. Seine Weihnachtsgeschenke hatte er uns am Heiligabend noch auf dem Totenbett überreicht. Ich habe die Schallplatte (Volkslieder, gespielt von James Last) noch heute.